80 Jahre nach dem NS-Kinderraub im besetzten Polen

17.01.2023 Niklas Regenbrecht

Barbara Paciorkiewicz und Markus Baier, Bürgermeister der Stadt Lemgo, 23. September 2022.

Barbara Paciorkiewicz trägt sich ins „goldene Buch“ der Stadt Lemgo ein, wo sie von 1942 bis 1948 als „eingedeutschtes“ Kind in einer Pflegefamilie lebte

Jürgen Scheffler

Am 23. September 2022 empfing Markus Baier, Bürgermeister der Stadt Lemgo, Barbara Paciorkiewicz aus Łódź (Polen) im Lemgoer Rathaus. Sie war eingeladen worden, sich ins „goldene Buch“ der Stadt einzutragen. Einen Tag später wurde im Gemeindehaus St. Nicolai der Film „Mädchengeschichten“ (2020) gezeigt. Die polnisch-deutsche Regisseurin Barbara Sieroslawski hat in dem Film drei Frauenschicksale porträtiert, deren Lebenswege im Verlauf des Zweiten Weltkriegs und in den frühen Nachkriegsjahren einen Bezug zur Stadt Łódź hatten. Eine der drei Frauen ist Barbara Paciorkiewicz.

Mit der Einladung würdigte die Stadt Lemgo die besondere Lebensleistung von Barbara Paciorkiewicz, geb. Gajzler. Im September 1942 war sie als vierjähriges Kind aus dem besetzten Polen verschleppt und nach Lemgo gebracht worden. Barbara wurde 1938 in Gdingen (Gdynia) geboren. Über ihre Eltern ist wenig bekannt. Ihre Mutter starb kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939. Barbara wuchs bei ihrer Großmutter in Łódź auf.

1942 wurden Barbara und ihre Großmutter zum Jugendamt in der Pietrkowska 113 bestellt. Dort befand sich die „Umwandererzentralstelle des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS“ und dort wurde Barbara von ihrer Großmutter getrennt. Das Mädchen wurde in verschiedene Heime gebracht, u.a. nach Bruckau (Bruczków) und in ein Heim des Vereins „Lebensborn“ in Bad Polzin (Połczyn Zdrój). Dort wurde sie im September 1942 von dem Lemgoer Lehrer Wilhelm Rossmann abgeholt und als Kind in seine Familie aufgenommen. Wilhelm und Marie Rossmann hatten beim Verein „Lebensborn“ wegen eines Adoptivkindes angefragt, weil ihre Tochter Ursel im Alter von 9 Jahren an Scharlach gestorben war. Von 1942 bis 1948 lebte Barbara unter dem Namen „Bärbel Rossmann“ in der Lemgoer Familie, mit den beiden erwachsenen Brüdern Wilhelm und Günter.

Barbara Gajzler war nicht das einzige polnische Kind, das im Zuge des NS-Kinderraubs nach Lemgo kam. In den Jahren 1942/43 wurden zwei weitere Kinder im Zuge der Zwangsgermanisierung an Lemgoer Familien vermittelt: Hermann Lüdeking (Roman Roszatowski) und Hella Schirneker (Halina Kurek, verheiratete Jachemska). Für Polen geht die Historikerin Isabel Heinemann (Universität Bayreuth) von mindestens 20.000 Kindern aus, die ins Deutsche Reich verschleppt wurden. Die Kinder wurden an deutsche Familien vermittelt. Ihnen sollte jede Erinnerung an ihre polnische Herkunft genommen werden. Ziel der NS-Rassenpolitik war es, mit dem Kinderraub und der damit verbundenen Zwangsgermanisierung polnische Familien zu zerstören und die als „rassisch wertvoll“ eingestuften Kinder in die deutsche Bevölkerung einzugliedern.

Im Jahre 1947 wurde Barbara vom Internationalen Roten Kreuz als polnisches Kind identifiziert und mit Zustimmung ihrer Lemgoer Familie nach Polen zu ihrer Großmutter zurückgebracht. „Mein persönlicher Krieg dauerte viel länger als bis Mai 1945 …“ So beschrieb sie ihre Erinnerung an die Rückführung nach Polen. Sie hatte die polnische Sprache vergessen und wurde in der Schule als „Hitlerine“ beschimpft. Nach ihrer Schulzeit und schweren Jahren in einem Heim absolvierte sie eine Ausbildung und arbeitete später als Textildesignerin. Sie heiratete und wurde Mutter von zwei Kindern: Aneta und Artur. Ihr Mann verstarb bei einem Autounfall, als die Kinder noch klein waren.

Die Frage nach ihrer Identität hat Barbara Paciorkiewicz ihr Leben lang nicht losgelassen. „Wer bin ich?“ So lautet die Überschrift eines Textes, der auf einem Gespräch mit ihr beruht. „Wie oft fragte ich mich, wo mein Platz auf dieser Erde ist und wer ich eigentlich wirklich bin: Polin oder Deutsche?“ Zu Lemgo und den Nachkommen der Familie Rossmann hat sie bis heute den Kontakt bewahrt, trotz ihrer traumatischen Erfahrungen als zwangsgermanisiertes Kind. Ins Zentrum ihres Eintrags ins „goldene Buch“ der Stadt hat sie den Dank an ihre Pflegeeltern gestellt. Auch der Text aus dem Jahre 2006 endet mit einer dankbaren Erinnerung an die Pflegeeltern: „Ich sage immer, dass ich ein Glückskind bin, denn mein Schicksal hätte völlig anders verlaufen können. Ich wurde brutal als ‚rassisch wertvoll‘ selektiert und kam zu einer Familie, die mich wie ihre eigene Tochter aufgenommen hat.“

Barbara Paciorkiewicz lebt in Łódź, in einer Hochhaus-Wohnung auf der gleichen Etage wie ihr Sohn Artur. In ihrer Wohnung bewahrt sie zahlreiche Ordner auf, mit persönlichen Dokumenten sowie Zeitungs- und Zeitschriftenartikel über ihre Biografie und ihr öffentliches Wirken. Barbara Paciorkiewicz wurde häufig als Zeitzeugin eingeladen und hat über die Schicksale der „geraubten Kinder“ berichtet. Die Wanderausstellung „Geraubte Kinder – vergessene Opfer“, die der Freiburger Lehrer Christoph Schwarz für den gleichnamigen Verein kuratiert hat und die seit 2014 in vielen Gedenkstätten und Museen gezeigt worden ist, hat Barbara begleitet und sich als Zeitzeugin an Eröffnungen und an Diskussionsveranstaltungen beteiligt.

Buchcover mit Fotos von Barbara Gaizler, aufgenommen im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS in Łódź (1942).

Das Foto, das 1942 im Rasse- und Siedlungshauptamt von der vierjährigen Barbara Gajzler gemacht und mit der Nummer 397 versehen wurde, ist zu einem zeitgeschichtlichen Bildzeugnis für den NS-Kinderraub geworden. Das USHMM Washington hat es in einer Wanderausstellung über Medizin und NS-Rassenpolitik verwendet, die in zahlreichen Ländern gezeigt worden ist. Die polnische Autorin Anna Malinowska hat es als Titelmotiv für ihr Buch über die „geraubten Kinder“ ausgesucht.

Barbara Paciorkiewicz hat sich intensiv dafür eingesetzt, dass die Geschichte der zwangsgermanisierten Kinder und deren traumatische Erfahrungen nicht vergessen werden. Wie sie es formuliert hat: „Die ‚Eindeutschung‘ der dem polnischen Volk entrissenen Kinder vernichtete die Psyche der Kinder.“ 14 Jahre lang war sie Vorsitzende des „Verbands der polnischen Kinder, die durch das Hitler-Regime eingedeutscht wurden“. Vom polnischen Präsidenten Alexander Kwasniewski ist sie für ihr Engagement geehrt worden. In Deutschland warten die „geraubten Kinder“ bis in die Gegenwart auf eine angemessene Entschädigung. Am Haus Pietrkowska 113 in Łódź erinnert heute eine Gedenktafel an die Opfer des NS-Kinderraubs. Ein Museum befindet sich in Planung.

Der früheste Text, den Barbara Paciorkiewicz über ihre Biografie verfasst hat, stammt aus dem Jahr 1984. Mit ihm hatte sie sich an einem literarischen Wettbewerb beteiligt, der aus Anlass des 40jährigen Bestehens der damaligen Volksrepublik Polen veranstaltet wurde. Sie schildert ihren Lebensweg als „geraubtes Kind“: von Gdynia über Łódź, Bruckau, Bad Polzin nach Lemgo und die Rückkehr 1948 nach Polen. Sie erinnert sich, wie schwer die ersten Jahre in Polen für sie waren, wie sie in den frühen 1960er Jahren wieder Kontakt zu ihren Pflegeeltern bekam, nach Lemgo eingeladen wurde und die Pflegeltern besuchte, wie sie hin- und hergerissen war, in Lemgo zu bleiben, was ihr die Familie Rossmann angeboten hatte, und dann doch nach Polen zurückkehrte. Mit dem Text hat sie den ersten Preis des Wettbewerbs gewonnen.

Trotz ihrer Erfahrungen als „geraubtes Kind“ hat Barbara Paciorkiewicz ihre Verbindung zur Stadt Lemgo bewahrt. Wie sie es selbst formuliert hat: „Ich habe bis heute eine kleine Heimat in Lemgo.“

 

Literatur:

Wolfgang Benz: Ein Glückskind? „Germanisierung“ im Zweiten Weltkrieg, in: Ute und Wolfgang Benz (Hrsg.), Gewalt zwischen den Generationen. Strukturen extremen gesellschaftlichen Verhaltens, Berlin 2010, S. 150-156.

Ines Hopfer: Geraubte Identität. Die gewaltsame „Eindeutschung“ von polnischen Kindern in der NS-Zeit, Wien/Köln/Weimar 2010.

ITS Bad Arolsen: „Ich bin alleine, zwischen fremden Menschen“. Kinder und Jugendliche als Verfolgte und Opfer des nationalsozialistischen Deutschland“, Bad Arolsen 2012.

E. Karpińska-Morek u.a.: Als wäre ich allein auf der Welt. Der nationalsozialistische Kinderraub in Polen, Freiburg/Basel Wien 2020.

Anna Malinowska: Brunatna Kołysanka. Historie uprowadzonych dzieci, Warschau 2017 („Braunes Schlaflied. Geschichten von entführten Kindern“).

Barbara Paciorkiewicz: Wer bin ich? Die Geschichte eines germanisierten Kindes, in: Das Wort. Quartalschrift, Nr. 73, Herbst 2006, S. 13-25.

Dorothee Schmitz-Köster/Tristann Vankann: Lebenslang Lebensborn. Die Wunschkinder der SS und was aus ihnen wurde, München/Zürich 2012, S. 319-334.