Abschied vom Kanon

23.08.2019

Veranstaltungsprogramm der Tagung "Abschied vom Kanon". Foto: Cantauw/LWL.

Abschied vom Kanon

Tagung im Freilichtmuseum Detmold erinnert an eine wichtige Konferenz vor 50 Jahren

1968, 69, 70: Diese Jahreszahlen stehen nicht nur symbolisch für Prozesse der gesellschaftlichen Liberalisierung und des kulturellen Wandels, sondern markieren auch in der Geschichte volkskundlicher Kulturwissenschaft Revolte und Reform.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die frühe Fachhistoriographie der deutschen Volkskunde um eine Stabilisierung der Disziplin bemüht durch die Behauptung einer Trennung einer integren wissenschaftlichen Volkskunde und einer ideologisierten und politisch belasteten „Volkstumsforschung“. In der bundesweit beachteten Vorlesungsreihe „Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus“ (Universität Tübingen, 1965), die eine studentische Initiative eingefordert hatte, brach Hermann Bausinger mit dieser Illusion: Er benannte die aktive und engagierte Beteiligung des Faches an der NS-Ideologie.

Nach erster studentischer Kritik auf dem Würzburger Kongress 1967 eskalierte die Debatte auf der Detmolder Arbeitstagung, zu der sich die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde (dgv) vom 22. bis 27. September 1969 versammelt hatte. Der dgv-Vorsitzende Gerhard Heilfurth wollte wegen „der Turbulenz und Dynamik unserer Zeit“ die Veranstaltung als „ein streng sachorientiertes Forum“ verstehen. Dies durchkreuzte eine studentische Gruppe. In seinem Flugblatt schlug das „Tübinger Kollektiv“ unter dem Titel „durchgesehener und erweiterter Führer durch das Programm“ vor, die gesamte Tagung durch die Vorführung eines einzigen Films zu ersetzen, dessen Titel den Fachkanon ironisierte: „Wie der Sänger Markus Schäffer das Märchen vom Gildefest in Krempe der Bauernfamilie des Fürchtenicht Grünhösler beim Schnitzen einer Teufelsmaske zum Abendessen erzählt.“

Die Diskussionen führten zu einem Bruch, die Tagungsbeiträge erschienen – anders als sonst – nicht in einem gemeinsamen Band. Das Konzept ‚Volkskultur‘ (mit seinem expliziten oder versteckten Nationalismus und völkischen Rassismus) hatte seine epistemische Kraft verloren. Die Anstrengungen, wieder eine gemeinsame Basis zu entwickeln, mündeten 1970 in eine fünftägige Arbeitstagung in Falkenstein. Die Falkensteiner Protokolle, 1971 von Wolfgang Brückner herausgegeben, dokumentieren weniger eine neue, verbindende Episteme dieser deutschen Variante einer cultural anthropology, sondern eher eine anhaltende Aporie, die sich bis heute zeigt, nicht zuletzt in der unlösbaren Namensfrage des Fachs.

Anders als auch die sogenannten Reformer dachten und hofften, kam es auch nicht zu einer kritisch entwickelten Kontinuität von „Volkskunde“: Nach der ersten, mittlerweile klassischen Analyse der volkskundlichen „Volkstumsideologie“ (Wolfgang Emmerich, 1968/71) belegten wissenschaftsgeschichtliche Forschungen auf breiter Quellenbasis, inwiefern Institutionen und Protagonisten (und Protagonistinnen) des Fachs im 20. Jahrhundert zu faschistischer und evolutionistischer Politik beigetragen hatten, einschließlich der nur geringfügigen Modifikation von Paradigmen der „Ostforschung“ an manchen westdeutschen Universitätsinstituten im Gefüge des Kalten Kriegs. Zugleich haben neue historische Perspektiven, beginnend 1999 mit einem vielbeachteten Aufsatz von Bernd Jürgen Warneken in der Zeitschrift für Volkskunde, die nationalistische Verengung des Fachs, die Marginalisierung vergleichender Herangehensweisen und den Verlust universalistischer Orientierungen zeitlich genauer lokalisieren können, nämlich um den Ersten Weltkrieg. Dieser Verlust universalistisch-vergleichender Perspektiven war eng verbunden mit der Marginalisierung der internationalen Fachdiskussion im Allgemeinen und den Beiträgen jüdischer Gelehrter im Besonderen.

Eher unbeabsichtigt haben gerade die Reformorientierungen im Fach den Horizont nationalisiert, etwa durch ihre Abwendung von der anthropologischen Diskussion hin zur Soziologie. Auch die kritische Befassung mit dem völkischen Engagement des Faches marginalisierte weitere (gleichwohl eurozentrische) Horizonte, etwa der Erzählforschung und der Forschungen zu materieller Kultur, die auf den Veranstaltungen der ISFNR, SIEF oder CIAP diskutiert wurden. Erst um 1990 wurde eine dezidiert internationale Perspektive institutionalisiert, als Ina-Maria Greverus, inspiriert durch die Writing-Culture-Debatte, feministische und kulturökologische Perspektiven, das Anthropological Yearbook of European Cultures gründete. Nach 50 Jahren nimmt die Konferenz die Detmolder Unruhe zum Anlass für einen Rückblick auf den September 1969 und dessen Folgen und Resonanzen im Fach.

Konzept: Hande Birkalan-Gedik (Frankfurt/Main), Friedemann Schmoll (Jena), Elisabeth Timm (Münster), in Kooperation mit der Volkskundlichen Kommission des LWL (Christiane Cantauw) und dem LWL-Freilichtmuseum – Westfälisches Landesmuseum für Alltagskultur, Detmold (Jan Carstensen).

Anmeldung bis: 10. September 2019 unter: volkskunde.institut@uni-muenster.de

Die Teilnahmegebühr (Kaffee & Catering) ist vor Ort im Museum zu bezahlen (Donnerstag

frei; Freitag und Samstag 20 €/Tag, Studierende 10 €/Tag).

Programm:

Thursday, 10 October 2019

18:00 Welcome Address

Dr. Barbara Rüschoff-Parzinger

LWL-Kulturdezernentin

Welcome Convenors and cooperation partners

18:30 Opening Lecture

Wechseljahre – Volkskundliche Selbsterkundungen in Umbruchzeiten

Silke Göttsch (Kiel)

20:00 Reception and Dinner

 

Friday, 11 October 2019

09:00 Re-readings of Detmold: Findings from the Archives

Hande Birkalan-Gedik, Friedemann Schmoll, Elisabeth Timm

10:00 Coffee Break

10:30 Round Table 1: Revisiting Detmold: Here and Now, There and Then

Hermann Bausinger (Tübingen), Wolfgang Emmerich (Bremen), Konrad Köstlin

(Wien), Carola Lipp (Göttingen), Bernd Jürgen Warneken (Tübingen)

(Moderation: Friedemann Schmoll)

12:15 Lunch

13:30 Talk 1 and Discussion

Wien–Detmold und zurück: eine Reise mit Folgen

Olaf Bockhorn (Wien)

14:15 Audio and Photo Footage from the 1969 Conference

Karin Bürkert (Tübingen), Elisabeth Timm (Münster)

15:00 Coffee Break

15:30 Museum Tour and Visiting the 1969 meeting places

18:30 Dinner at the Museum restaurant

 

Saturday, 12 October 2019

09:00 Talk 2 and Discussion

Belated Introspections: Rethinking Volkskunde in the Netherlands since the 1960s

Rob van Ginkel (Amsterdam)

09:45 Talk 3 and Discussion

Writing the Histories of International Folkloristics under the Shadow of

Jewish-German Mythologies

Dani Schrire (Jerusalem)

10:30 Coffee Break

11:00 Round Table 2: Changing Folklore Studies in the 1960s and 1970s:

Perspectives from the US and Europe

Folk, Folklore, Folkloristics: New World Terministic Screens

John H. McDowell (Bloomington)

Critique of the Canon: Slovenian Routes in the 1960s and 1970s

Ingrid Slavec Gradišnik (Ljubljana)

(Moderation: Hande Birkalan-Gedik)

12:30 Talk 4 and Discussion

„Eine allgemeine atmosphärische Reinigung“ im Außen- und Rückblick:

Funde und Befunde aus schweizerischer Perspektive

Konrad J. Kuhn (Innsbruck)

 

 

Ort/Place of event:

LWL-Freilichtmuseum Detmold – Westfälisches Landesmuseum für Alltagskultur

Krummes Haus, Terrassensaal

32760 Detmold

Anmeldung bis: 10. September 2019

Kategorie: Veranstaltungen

Schlagwort: Tagung