Niklas Regenbrecht
„Die Adventszeit ist im allgemeinen nicht als solche gefeiert worden.“ (MS00780) oder: „Es lag ehedem über diesen vier Wochen eine besondere Weihe und Besinnlichkeit.“ (MS00830) Anhand dieser beiden Aussagen zeigt sich schon: ganz einig waren sich die „Gewährsleute“ nicht, die zwischen 1955 und 1980 172 Berichte über die Advents- und Weihnachtszeit verfasst hatten. Wie zu erwarten, decken die Berichte, die themenspezifisch Bräuche und alltägliches Leben aus der Zeit zwischen 1880 und 1950 schildern, nicht nur regional ein breites Spektrum ab. Auch inhaltlich ergeben sich konfessionsbedingte, soziale, wirtschaftliche und altersspezifische Unterschiede.
Verfasst wurden die Berichte im Zuge einer Erhebung der Volkskundlichen Kommission für Westfalen. Ausgewählte „Gewährsleute“ in ganz Westfalen – von Seiten der Kommission wurden sie als „Archivmitarbeiter“ angesprochen – erhielten in regelmäßigen Abständen Fragelisten zu unterschiedlichsten Aspekten der Alltagskultur. Sie konnten sich persönlich und ausgiebig zu den angesprochenen Themen äußern. Die Subjektivität der Berichte ebenso wie die Rolle der Gewährsleute als „sachkundige Sprecher“ für einen ganzen Ort war dabei durchaus gewollt. Quellenkritisch ein sicher nicht ganz einfach zu handhabendes Material, sind die Informationen über die einzelnen Verfasser doch relativ rar.
Frageliste 25 betraf das „Advents- und Weihnachtsbrauchtum“ und wurde erstmals 1955 an die Gewährsleute verschickt. Hier wurde etwa nach dem Verhalten der Menschen in der Adventszeit, einzelnen Tagen wie Barbaratag oder Thomastag, der Nikolausverehrung oder dem Weihnachtsgebäck gefragt.
Die Gewährsleute beantworteten die Fragen aber nicht nur hand- oder maschinenschriftlich, manche von Ihnen fügten den Texten auch Fotografien oder kleinere und größere Zeichnungen bei. Das waren im Falle der Weihnachts-Frageliste vereinzelt Skizzen etwa eines Kerzenständers oder einer Krippenfigur. In der überwiegenden Zahl der Fälle handelt es sich bei den beigegebenen Zeichnungen um Abbildungen von Stutenkerlen. Diese Abbildungen ähneln einander stark, große Unterschiede scheint es im Allgemeinen nicht gegeben zu haben. Mit den Zeichnungen entsprachen die Gewährsleute dem Wunsch der Kommission, die ausdrücklich nach Abbildungen der Stutenkerle gefragt hatte. So war in der Frageliste formuliert: „Ist es bei Ihnen üblich, zu Nikolaus sogenannte Stutenkerle zu backen? Kennen Sie andere Bezeichnungen dafür? Werden die Stutenkerle beim Bäcker gekauft oder im Hause gebacken? Wie sehen sie aus? Von welcher Größe sind sie? Werden die Augen aus Rosinen gemacht? Ist er mit einer weißen Tonpfeife versehen? Können Sie eine Skizze machen? Werden die Pfeifen später von den Kindern benutzt, um Seifenblasen damit zu machen?“ (Frageliste 25 Advents- und Weihnachtsbrauchtum, Abschnitt Gebildebrote, abgedruckt bei Sauermann 1986, S. 132-133)
Das war zugegebenermaßen leicht suggestiv formuliert und strukturierte manche Antwort und ihren Inhalt bereits vor. Doch warum wurden gerade die Stutenkerle mit Zeichnungen bedacht, andere Gebäckvarianten jedoch nicht, obwohl auch hier explizit danach gefragt worden war?
Auch stellt sich heute die Frage, woher bei den Urhebern der Frageliste das Interesse an Zeichnungen der Stutenkerle kam? Ging man etwa davon aus, dass es bei den Stutenkerlen große regionale Unterschiede geben oder dass es sich um ein aussterbendes Brauchtum handeln könnte? In der älteren volkskundlichen Forschung, speziell in der „Gebildbrotkunde“, hatte man verschiedene Theorien über die Funktionen der Gebäcke aufgestellt. Handelte es sich um Symbole heidnischer Gottheiten, um Teignachbildungen von Opfer- oder Grabbeigaben oder etwa um „Analogiezauber“, die dem Abbild eines Wesens dieselben Eigenschaften zuwiesen, wie dem Vorbild? Erinnerten sie an die „menschlichen Figuren prähistorischer Felszeichnungen“? Oder hatten die Gebildbrote eine Funktion im Totengedenken? Ein Überblick aus dem Jahr 1968 von Hans-Jürgen Hansen über diese Thematik verwies neben solcherlei Theorien auch auf die Bedeutung, die „die Feststellung der Verbreitungsgebiete einzelner Formen für die Kenntnis des strukturellen Gefüges der Volkskultur“ habe. Ob die Urheber der Frageliste die einschlägige Fachliteratur rezipierten, lässt sich nicht belegen, ist aber anzunehmen. Vielleicht hatten sie Forderungen wie die zuletzt zitierte vor Augen und knüpften an die kulturraumforscherische Bestandsaufnahme für den Atlas der deutschen Volkskunde an. Für dieses Vorhaben war bereits im Jahr 1930 eine Bestandsaufnahme der Verbreitung des deutschen Brauchtumsgebäckes durchgeführt worden (dazu und auch zur geographischen Verbreitung des Stutenkerls, Segschneider 1979/80).
Doch zurück zu den Stutenkerlen selbst: In den vorliegenden Berichten wurden sie auch Kloos, Klauskerl oder Stuttemännes genannt. In Westfalen gehören sie zu den bekanntesten der Gebildbrote, meist bestehend aus einfachem, gesüßtem Hefeteig, Rosinen zur Gestaltung des Gesichtes und einer Tonpfeife. Heute werden sie meist zum Sankt-Martins-Tag (11. November) oder zum Nikolaustag (6. Dezember) verkauft. Andere Gebäckfiguren wie Hasen, Hühner, Enten, Gänse oder Reiter finden sich dagegen nur noch gelegentlich. Die westfälischen Gewährsleute äußerten sich also wie vorgegeben zu Beschaffenheit und Größe der Stutenkerle, oder auch dazu, wann und wie man diese erhielt und wie sie verzehrt wurden. Ebenso, was man danach mit der Pfeife zu tun pflegte. Und manche fügten auftragsgemäß ihre Skizzen bei.