„Im Vordergrunde steht das A; Der Schütze Arsch und Afrika.“ Felix Schild und das „goldene Brigadealphabet“ der Afrika-Division 999

05.07.2024 Marcel Brüntrup

Marcel Brüntrup

Im dritten Kriegsjahr 1942 wurde der 31 Jahre alte Felix Schild aus Hamborn (Duisburg) zur Wehrmacht einberufen. Für den studierten Bauingenieur, der 1940 für „wehrunwürdig“ befunden und vom Dienst an der Waffe ausgeschlossen worden war, sollte dies aus Sicht der Militärführung eine Chance zur Bewährung sein. Denn in Anbetracht der verlustreichen Kämpfe an der Ostfront hatte das deutsche Heer Anfang Oktober 1942 eine gesonderte Division für „wehrunwürdige“ Männer aufgestellt, die sogenannte Afrika-Division 999. Der Name verwies auf den vorgesehenen ersten Einsatzort der Truppe in Nordafrika, während die Nummer 999 den Abstand zu regulären Infanteriedivisionen ausdrücken sollte. Die Männer wurden für die Dauer ihres Einsatzes als „bedingt wehrwürdig“ eingestuft, mit der Aussicht, ihre volle Wehrwürdigkeit zurückzuerlangen, wenn sie sich im Kampf bewährten.

Felix Schild als 19-Jähriger Abiturient. Der Führerausweis, ausgestellt am 22. Juli 1930 vom Jugendamt Bocholt, erlaubte es ihm, Ausflüge des katholischen Bund Neudeutschland zu leiten.

Während sich die bereits ab Juli 1941 aufgestellten „500er Bewährungsbataillone“ aus deutschen Soldaten zusammensetzten, die von der Wehrmachtjustiz zu kurzzeitigen Haftstrafen verurteilt worden waren, handelte es sich bei den 999ern um Zivilisten, die ihre Wehrwürdigkeit durch ein zivilgerichtliches Urteil verloren hatten. Neben einem Stammpersonal von rund 9.000 Mann setzte sich die „Afrika-Division 999“ aus 28.000 Strafsoldaten zusammen – zumeist gewöhnliche Kriminelle, die eine längere Haftstrafe verbüßt hatten. Fast ein Drittel der Division bestand hingegen aus politischen Gefangenen, die wegen „staatsfeindlicher Betätigung“ inhaftiert worden waren, darunter vor allem Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, Geistliche und Zeugen Jehovas.

Felix Schild in Schutzhaftkleidung und mit kurzgeschorenen Haaren, 1936–1938.

Felix Schild war seit 1927 in diversen katholischen Jugendverbänden tätig gewesen, darunter der Bund Neudeutschland und der 400.000 Mitglieder zählende katholische Jungmännerverband (KJMV). Das „Jugendhaus Düsseldorf“, die Verbandszentrale des KJMV, in der sich auch Felix Schild engagierte, stand seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten bis zur endgültigen Schließung im Februar 1939 unter ständiger Beobachtung der Gestapo. Anfang 1936 besetzten Gestapobeamte das Jugendhaus für mehrere Wochen und nahmen fast 60 Mitarbeiter fest, denen sie Kontakt zu illegalen kommunistischen Gruppen vorwarfen. Felix Schild musste von 1936 bis 1938 eine Haftstrafe verbüßen, die genauen Umstände seiner Verhaftung sind allerdings nicht bekannt. Nach dem Krieg gab er an, er sei von der Gestapo „wegen Fortführung verbotener Jugendverbände u[nd] Widerstand gegen die HJ durch Beeinflussung d[er] Jugend im anti-nationalsozialistischen u[nd] pazifistischen Sinn“ verfolgt worden. Gemäß seinem Ausschließungsschein von der Wehrmacht war er während dieser Zeit in den Emslandlagern inhaftiert, das waren frühe Straf- und Konzentrationslager für politische Gefangene und andere Häftlinge. Nach seiner Entlassung galt Schild als „wehrunwürdig“, bis er einen Einberufungsbescheid erhielt und im Dezember 1942 seinen Dienst bei der Strafdivision 999 antrat.

Felix Schilds Ausschließungsschein, ausgestellt am 13. März 1940 von der polizeilichen Meldebehörde Aschendorfermoor, der ihm einen Ausschluss vom Dienst in der Wehrmacht bescheinigte. Das ursprüngliche Foto in Schutzhaftkleidung und mit kurzgeschorenen Haaren ersetzte Schild später durch ein Passfoto in Anzug und Brille.

Während ihrer Ausbildung auf dem Heuberg, einem Truppenübungsplatz in den Bayerischen Alpen bei Nussdorf am Inn, wurden die Strafsoldaten innerhalb kurzer Zeit und unter äußerst harten Bedingungen auf ihren bevorstehenden Einsatz in Afrika vorbereitet. Eine strenge Überwachung vom Stammpersonal der Division, Kasernenhofdrill, Strafexerzieren, Beschimpfungen und Schikanen waren an der Tagesordnung, jedwedes Fehlverhalten wurde scharf sanktioniert. Allein auf dem Heuberg wurden 39 Soldaten hingerichtet, am späteren Ausbildungsplatz in Baumholder (Landkreis Birkenfeld, Rheinland-Pfalz) weitere 29. Die häufigsten Gründe für die Todesstrafe waren „Fahnenflucht“ oder „unerlaubtes Entfernen von der Truppe“. Auch unerlaubte Gruppenbildung und kommunistische Propaganda zogen mehrere Todesurteile nach sich.

In dieser Situation verfassten Schild und einige Kameraden das „Goldene Brigadealphabet von 999“, ein satirisches Gedicht über das harte Leben der 999er. Die Verse spiegeln die Härten und Absurditäten des Lebens auf dem Heuberg wider und den Zynismus der Soldaten, die ihre schwierige Lage durch Humor und Kreativität zu bewältigen versuchten. So heißt es in Abschnitt „L“: „Wem Liebe ist das halbe Leben, Der muss hier bald den Geist aufgeben.“ Unter dem Buchstaben „G“ kritisierten die Soldaten die Qualität des Essens: „Gullasch ist ein ‚Götterfrass‘, wenn man darin das Fleisch vergass.“ Ein anderes Beispiel ist das ironische Loblied auf den Truppenübungsplatz: „Oh Heuberg, Du mein Heimatland, der Herrgott schlief, als es entstand.“ Auch die harten Disziplinarmaßnahmen kommen im Brigadealphabet zur Sprache: „Unfug, Urlaub und Unbedacht, hat manchen schon ins Loch gebracht.“ Andere Verse beziehen sich in ironischer Zuversicht auf den bevorstehenden Einsatz gegen die britischen Truppen in Nordafrika: „Der Tommi hat zur Zeit mal Schwein; Doch warte, bald kommt 999.“

Der Einsatz der 999er in Afrika begann im März 1943 und endete zwei Monate später am 13. Mai mit der Kapitulation der Heeresgruppe Afrika bei Tunis. Die Strafdivision hatte in erbitterten Kämpfen gegen die britischen Streitkräfte schwere Verluste erlitten. Nach ihrer Neuaufstellung wurde die Einheit zunächst zur Partisanenbekämpfung auf den Balkan und nach Griechenland verlegt und später in der Sowjetunion gegen die Rote Armee eingesetzt. Anfangs beurteilten die Kommandeure den Einsatz der Truppe noch durchaus positiv, das unzuverlässige Verhalten der „Politischen“ wurde jedoch immer mehr zum Problem, antifaschistische Widerstandsakte häuften sich. Besonders auf dem Balkan und in Griechenland nutzten viele 999er die Gelegenheit zur Flucht und schlossen sich den örtlichen Partisanenverbänden an. Auch an der Ostfront kam es immer wieder vor, dass Soldaten der Brigade 999 zur Roten Armee überliefen. Die zunehmende Unzuverlässigkeit war mit ein Grund dafür, dass die Zwangsrekrutierung und Ausbildung neuer Soldaten für die mittlerweile als „Ersatz-Brigade 999“ bezeichnete Einheit im September 1944 eingestellt wurde.

Felix Schild blieben der Einsatz in Afrika sowie alle späteren Kriegseinsätze erspart. Bereits Ende Januar 1943 wurde er wieder als „wehrunwürdig“ aus der Strafdivision entlassen, um Aufräumarbeiten in den luftangriffsgefährdeten Gebieten Duisburgs zu verrichten. Es gelang ihm, wieder bei seinem früheren Arbeitgeber eingestellt und als Bauingenieur „unabkömmlich“ gestellt zu werden. Einem erneuten Stellungsbefehl der Wehrmacht hatte er damit vorgebeugt. Abgesehen von einer leichten Verletzung am Oberschenkel durch einen Granatsplitter während eines Luftangriffs überstand er den Krieg unversehrt und ohne an Kampfhandlungen teilgenommen zu haben. Das handschriftlich verfasste „Goldene Brigadealphabet von 999“, ein Andenken an seine Zeit auf dem Heuberg, blieb zusammen mit anderen Unterlagen im Nachlass seines Sohnes Norbert Schild im Alltagskulturarchiv erhalten.

Quelle

Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Konvolut Norbert Schild (Teil 3), K02931.0000.

Literatur

Joachim Käppner, Soldaten im Widerstand. Die Strafdivision 999 1942 bis 1945, München 2022.

Hans-Peter Klausch, Die Geschichte der Bewährungsbataillone 999 unter besonderer Berücksichtigung des antifaschistischen Widerstandes. 2 Bände, Köln 1987.