„Hier werden Bräuche und Lieder gehortet.“ Aus den Anfangsjahren des Archivs für Alltagskultur in Westfalen

24.09.2021 Niklas Regenbrecht

Gewährspersonen zu Gast beim 20. Archivgeburtstag 1971, Foto: Renate Brockpähler, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 0000.56282.

Niklas Regenbrecht

Vor 70 Jahren, im Jahr 1951, wurde das Archiv für westfälische Volkskunde (heute Archiv für Alltagskultur) gegründet. „Hier werden Bräuche und Lieder ‚gehortet‘.“ titelte dazu aus Anlass der Einsendung des 1200. Gewährspersonenberichtes das Münsterische Tageblatt am 18.01.1957. „Opas berichten aus alter Zeit“ (Rheinische Post, 21.09.1957), „Sterbendes Brauchtum in Dokumenten“ (Westdeutsche Allgemeine, 11.06.1960), „Alte Leute mit gutem Gedächtnis gesucht“ (Haller Kreisblatt, 27.01.1960) oder schlicht auf den Punkt gebracht: „Sammeln und Ordnen sind die Hauptaufgaben der Arbeit“ (Münsterisches Tageblatt, 24.08.1961). So und in ähnlicher Weise betitelten regionale Zeitungen die Arbeit der Volkskundlichen Kommission und ihres Archivs in den 1950er und 1960er Jahren. Auch wenn diese Schlagzeilen vielleicht nicht unbedingt das damalige Selbstverständnis der Archivmitarbeiterinnen und -mitarbeiter trafen, so zeigen sie doch, wie ihre Arbeit wahrgenommen wurde. Jede runde Zahl an eingegangen Gewährspersonenberichten wurde in jenen Jahren dazu genutzt, die Arbeit des Archivs bekannter zu machen.

Doch zunächst von Anfang an: Im April 1951 nahm das Archiv für westfälische Volkskunde seine Arbeit auf. Der Vorstand der Volkskundlichen Kommission für Westfalen (heute Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen) hatte im Dezember 1950 einen entsprechenden Gründungsbeschluss gefasst. Das Archiv wurde der Geschäftsstelle der Kommission angegliedert. Dem vorausgegangen war ein Aufenthalt des Kommissionsvorsitzenden William Foerste in Schweden, wo er in den Jahren 1949 und 1950 eine Gastprofessur an der Universität Lund innehatte. Hier lernte er die Arbeit des dortigen Volkskundearchivs kennen, die sich durch ein besonderes Korrespondentenverfahren auszeichnete. Dabei wurden sogenannte Fragelisten zu bestimmten Themen an ausgewählte Gewährspersonen ausgesendet, die ihre Antworten in Form umfangreicher, persönlicher Berichte verfassen sollten. Diese Methode des „Folklivsarkivet“ wurde im Anschluss auf Westfalen übertragen. Bis in die 1980er Jahre hinein wurden so insgesamt 46 Fragelisten (eine Übersicht findet sich hier) an Gewährspersonen in ganz Westfalen versandt, die in ihren Antworten Schilderungen des alltäglichen Lebens und Brauchtums aus der Zeit zwischen 1880 und 1950 dokumentierten. Dabei waren sie angehalten, ihre subjektiven Erfahrungen und Erinnerungen ausgiebig in eigenen Worten, zum Teil auch mundartlich oder auch in Bildern, darzulegen. Häufig handelte sich bei den Gewährspersonen um volkskundlich vorgebildete Volksschullehrer. Die Themen der Fragelisten orientierten sich an den zu dieser Zeit in der volkskundlichen Forschung als bedeutend erachteten Themenfeldern. Zu Beginn ging es vor allem um die Dokumentation von „Brauchtum“ oder dem bäuerlichen Arbeiten und Wirtschaften. Später kamen dann modernere Themen wie etwa der Fernsehkonsum hinzu. Viele Gewährspersonen verfassten zudem persönliche Lebenserinnerungen, die sie dem Archiv hinterließen. Die über 6600 Manuskripte bildeten – und bilden bis heute – den Kern des Archivs und sein Alleinstellungsmerkmal.

Die Aufbewahrung der Gewährspersonenberichte im Jahr 1955, Foto: Irmgard Simon, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 0000.04336.

Parallel zur Sammlung der Gewährspersonenberichte baute man ebenfalls seit 1951 ein umfangreiches Bildarchiv als zweite Säule des Volkskundearchivs auf. Außerdem wurde als dritte Säule das bereits 1927 gegründete westfälische Volksliedarchiv eingegliedert. In der Anfangszeit wurden im Bildarchiv vor allem Fotografien etwa von Möbeln und Geräten, Geschirr und Trachten oder Wegebildern gesammelt. Während man etwa im Gründungsjahr 1951 einen Bestand von 618 Fotografien und 117 Berichten zählte, waren es 1961 schon 23.124 Fotografien und 2040 Berichte und im Jahr 1971 bereits 58.522 Fotografien und 4637 Berichte.

Im Jahr 1971, zum 20. Geburtstag des Archivs, wurden die Gewährspersonen – die bezeichnenderweise vonseiten des Archivs als „Archivmitarbeiter“ angesprochen wurden – zu einer Fest- und Besichtigungsveranstaltung eingeladen. Die Archivleiterin Renate Brockpähler berichtete über diese Veranstaltung im eigenen Mitteilungsblatt. Nach Begrüßung und Vortrag durch den Kommissionsvorsitzenden Bruno Schier und die Archivgründerin Martha Bringemeier ging es betont westfälisch weiter mit einem straffen Tagesprogramm.

„Im Anschluß an diese Einführung versuchten wir, unsere vielen Besucher durch alle Räume zu schleusen, damit sie einmal sahen, wie das, was sie für uns mit Mühe und Fleiß zusammengetragen haben, aufbewahrt, inventarisiert und katalogisiert wird, um dann der Forschung zur Verfügung zu stehen. Bei dem Rundgang bildeten sich häufig kleine Gruppen von ‚Experten‘, die alsbald ins ‚Fachsimpeln‘ gerieten, und so blieb es eigentlich den ganzen Tag: Die Mitarbeiter, die sich großenteils vorher gar nicht kannten, hatten sofort Kontakt zueinander gefunden. Darüber freuten wir uns sehr, da wir selbst uns angesichts der großen Zahl der Erschienenen nicht so sehr um jeden Einzelnen kümmern konnten, wie wir das gerne gewollt hätten.
Das Mittagessen nahmen wir gemeinsam im ‚Ratskeller‘ ein. Anschließend teilte man sich auf in einzelne Gruppen zum Besuch des Westfälischen Wörterbuch-Archivs, des Landesmuseums für Vor- und Frühgeschichte oder des Flurnamen-Archivs. Um 15 Uhr starteten am Ägidiiplatz 2 Busse zur Stadtrundfahrt, die im Gebäude des ‚Mühlenhofs‘ am Aasee endete. Dort erfolgte die Führung durch die Anlagen und Gebäude dieses ‚Freilichtmuseums im Kleinen‘ in däftigem Platt, und als sich dann anschließend alle im Inneren des Mühlenhofes am Herdfeuer niederließen, – das allerdings wegen der Hitze des Tages nicht brannte, – herrschte bald eine ausgezeichnete Stimmung. Plattdeutsche Vorträge wurden abgelöst von einzeln oder gemeinsam gesungenen Liedern, zwischendurch erzählte Herr Professor Schier, wie das Mühlenhof-Museum entstanden ist. Schinkenschnittchen und ‚drüge Endken‘, Wocholder und Aufgesetzter wurden gereicht. Viel zu schnell verging die Zeit […].

Die folgenden zehn Jahre waren geprägt von Veränderungen in der Volkskunde, die sich auch auf die Arbeit des Archivs auswirkten. Zum 30. Archivgeburtstag 1981 wurde keine Einladung an die Gewährspersonen mehr ausgesprochen. Das dahinterstehende System der Befragung wurde von anderen Erhebungsmethoden abgelöst. Die Arbeit des Archivs entwickelte sich weiter. So wurde 1980 auch die begonnene Mikroverfilmung der Gewährspersonenberichte vermeldet. Eine Arbeit, die die in den 1990er Jahren begonnene Digitalisierung des Archivgutes ihre Schatten voraus werfen ließ. Auch die Zusammensetzung der neu aufgenommenen Bestände sollte sich ändern. Vermehrt waren dies Materialsammlungen aus den verschiedenen Projekten und wissenschaftlichen Untersuchungen der Kommission sowie verstärkt auch Nachlässe ganz normaler Leute aus Westfalen, die in den Kommunalarchiven seinerzeit eher unberücksichtigt blieben. Neben den Gewährspersonenberichten als verschriftlichte Dokumentationen alltäglichen Lebens sind so Bestände herangewachsen, die eine Vielzahl kulturwissenschaftlich interessanter Quellenmaterialien bereithalten und zur Erforschung von Alltagskultur einladen. So ist es auch nur folgerichtig, dass das Archiv heute unter dem Namen Archiv für Alltagskultur in Westfalen firmiert.

Literatur:

Brockpähler, Renate: 20 Jahre Archiv für westfälische Volkskunde, in: Mitteilungsblatt Archiv für westfälische Volkskunde, Nr. 20, 1971, S. 10–12.

Sauermann, Dietmar: Volkskundliche Forschung in Westfalen 1770 – 1970. Geschichte der Volkskundlichen Kommission und ihrer Vorläufer, 2 Bde., Münster 1986.

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