Anni Topheide und ihr Fahrrad im Fotoalbum. Teil 1

31.05.2024 Marcel Brüntrup

Timo Luks

Im Nachlass von Anni Topheide (1894–1974), verheiratete Höing, der 2017 von der Universitäts- und Landesbibliothek Münster erworben und inzwischen digitalisiert wurde, befinden sich neben Briefen und Tagebüchern auch einige Fotoalben. Die junge Anni Topheide, Tochter eines Buchdruckers und einer Hausfrau, absolvierte ab 1908 eine Ausbildung als Buchhalterin im Textilhaus Kluxen in Münster und war dort, am Prinzipalmarkt, bis 1915 tätig – bevor sie in die Münsteraner Niederlassung der AEG wechselte, 1920 heiratete und zusammen mit ihrem Mann Hubert Höing eine Druckerei aufbaute.

Wir haben es mit einer jungen Angestellten zu tun, also mit der Angehörigen einer sozialen und Berufsgruppe, die im frühen 20. Jahrhundert wie kaum eine andere den Aufbruch in neue, modernere Zeiten verkörperte und Gegenstand zahlreicher journalistischer und literarischer Reflektionen war. Der Historiker Peter-Paul Bänziger hat in einer großartigen Studie auf der Grundlage zahlreicher Tagebücher herausgearbeitet, wie sich unter anderem in diesem Milieu eine neue „Erlebnisorientierung“ durchzusetzen begann, die nicht nur Freizeit und Konsum betraf, sondern auch den Bereich der Arbeit. „Genau weil sich die Erlebnisorientierung nicht an diese Aufteilung des Alltags hielt“, so schreibt er, „stellt sie ein wesentliches Kennzeichen der konsum- und arbeitsgesellschaftlichen Subjektkultur dar.“ (S. 263)

Glück mit ihrer Arbeit hatte Anni Topheide, wie ihre Tagebücher zeigen, nicht. Das von ihr als tyrannisch wahrgenommene Verhalten des Textilpatriarchen Bernhard Kluxen irritierte sie von Anfang an, und ließ sie, wie Klaus-Dieter Franke schreibt, auch viele Jahre danach nicht los. Regelmäßig schrieb Anni über ihren „Hass“ auf Kluxen und darüber, dass alles besser wäre, gäbe es nur einen anderen „Chef“. Bleibt die Freizeit – und mit ihr das Fahrrad.

Auch wenn Annis Fahrrad für ihre Freizeitgestaltung, etwa für Ausflüge, eine wichtige Rolle spielte, so soll es hier nicht um diesen Aspekt gehen. In den Fotoalben finden sich einige Bilder von Fahrradausflügen. Es ist allerdings ein anderes Foto, das zumindest mich beim (digitalen) Durchblättern überrascht hat. Roland Barthes hat in seinem berühmten Essay zur Fotografie zwischen studium und punctum unterschieden. Studium meint jene Dimensionen einer Fotografie, die man sich mit Kontextwissen und Interpretation erschließt. Das punctum dagegen „schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren“. (S. 35f.) Mich hat nicht so sehr ein Detail in einem einzelnen Bild, sondern ein Foto in einem der Alben von Anni Topheide durchbohrt.

„1914 meine Zimmerchen im Kleinen Haus Nordstraße B“

Das linke, untere Foto auf der Albumseite ist beschriftet mit „1914 meine Zimmerchen im Kleinen Haus Nordstraße B“. Es liegt nahe, dass damit sowohl das beschriftete – fahrradfreie – Foto als auch das Foto rechts daneben gemeint ist. Dieses Bild zeigt eine Kammer, offenkundig mit Zugang zum Dachboden. Die Funktion des Zimmers ist nicht ganz klar. Ein Puppenhaus und einige Schatullen deuten darauf hin, dass in dem Zimmer liebgewonnene, aber nicht alltäglich genutzte Dinge Unterschlupf fanden. Das Fahrrad im Zimmerchen passt in diese Kategorie. Zudem handelt es sich dabei um etwas Wertvolles. Unter diesen Voraussetzungen dürfte die Aufbewahrung im Zimmerchen auch heute noch vielen Menschen in Münster und Umgebung einleuchten.

Zimmerchen mit Fahrrad

Dass eine 20-jährige, unverheiratete Buchhalterin mit einem weder üppigen noch – für eine alleinstehende junge Frau – spärlichen Gehalt (bei allerdings auch beachtlicher Arbeitsbelastung) über ein eigenes Fahrrad verfügte, hat natürlich mit der Geschichte des Fahrrads und der Emanzipation der Frauen zu tun. Seit Mitte der 1890er Jahre folgte in west- und mitteleuropäischen Städten, nicht nur in den Metropolen, ein Fahrradboom auf den nächsten. Steigende Mitgliedszahlen in Radfahrvereinen, steigende Verkaufszahlen und immer mehr Frauen, die sich für das Fahrrad begeisterten – all das gehörte zusammen. „Die ‚schmucke Radlerin‘“, so scheibt die Historikerin Anne-Katrin Ebert, „wurde zum beliebten Thema von Zeitschriften und Zeitungen. Ihre Gestalt wurde zum Motiv von Gemälden und zierte manche Reklameanzeige.“ (S. 91)

Zur Verbreitung des Fahrrads trug die Einführung des Niederrads Ende des 19. Jahrhunderts bei. Mehrsitzer – Tandems und auch Dreiräder – waren zunächst noch beliebt, boten sie doch ein gemeinschaftliches Fahrerlebnis. Allerdings gerieten diese Modelle in ein „Spannungsverhältnis zur Konstruktion des Radfahrens als individueller Erfahrung“, die, so Anne-Katrin Ebert, „vor allem auf der Erfahrung des Gleichgewichts bei hoher Geschwindigkeit“ gründete. „Wollten die Frauen mit den Herren auf dem Fahrrad mithalten, so mussten sie sich zwangsläufig für das Niederrad entscheiden.“ (S. 113)

Das Damenniederrad – also erkennbar das Modell, für das Anni Topheide sich irgendwann vor 1914 entschied – reagierte vor allem auf die Kleidungsfrage, war ein Rad mit Querstange mit Rock oder Kleid doch kaum benutzbar. Die Nachteile bezüglich Gewicht und Stabilität wurden in Kauf genommen, galten zeitgenössisch allerdings als „durch den sorgfältigen Bau und den Gebrauch vorzüglicher Stahlröhren beim Damenrahmen“ ausgleichbar. Auch wenn beispielsweise die Radaktivistin Amalie Rother um die Jahrhundertwende „ihren Leserinnen [riet], unbedingt auf ‚die hässliche und unpraktische Damenmaschine‘ zu verzichten“, so blieb das Damenrad doch „die erste Wahl für Rad fahrende Frauen, sogar wenn der anders gestaltete Rahmen den Preis erhöhte und die Stabilität und Leichtigkeit der Maschine negativ beeinflusste.“ (S. 113f.)

Abbildungen

Höing, Anni: Fotoalbum 1, 1912–1931, Digitalisat, 38 Seiten, ULB Münster, Signatur: N. Höing Digital 1 (https://sammlungen.ulb.uni-muenster.de/urn/urn:nbn:de:hbz:6:1-246199).

Literatur

Bänziger, Peter-Paul: Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft, 1840–1940. Göttingen 2020.

Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main 1989 [frz. 1980].

Ebert, Anne-Katrin: Radelnde Nationen. Die Geschichte des Fahrrads in Deutschland und den Niederlanden bis 1940. Frankfurt am Main 2010.

Franke, Klaus-Dieter: Die Tagebücher der jungen Anna Topheide (verheiratete Höing) aus Münster 1908–1929. Von weiblicher Aneignung der Welt in schwierigen Zeiten, Münster 2019, URL: https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6-33109453756.

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