Timo Luks
Im Nachlass von Anni Topheide (1894–1974), verheiratete Höing, der 2017 von der Universitäts- und Landesbibliothek Münster erworben und inzwischen digitalisiert wurde, befinden sich neben Briefen und Tagebüchern auch einige Fotoalben. Die junge Anni Topheide, Tochter eines Buchdruckers und einer Hausfrau, absolvierte ab 1908 eine Ausbildung als Buchhalterin im Textilhaus Kluxen in Münster und war dort, am Prinzipalmarkt, bis 1915 tätig – bevor sie in die Münsteraner Niederlassung der AEG wechselte, 1920 heiratete und zusammen mit ihrem Mann Hubert Höing eine Druckerei aufbaute.
Wir haben es mit einer jungen Angestellten zu tun, also mit der Angehörigen einer sozialen und Berufsgruppe, die im frühen 20. Jahrhundert wie kaum eine andere den Aufbruch in neue, modernere Zeiten verkörperte und Gegenstand zahlreicher journalistischer und literarischer Reflektionen war. Der Historiker Peter-Paul Bänziger hat in einer großartigen Studie auf der Grundlage zahlreicher Tagebücher herausgearbeitet, wie sich unter anderem in diesem Milieu eine neue „Erlebnisorientierung“ durchzusetzen begann, die nicht nur Freizeit und Konsum betraf, sondern auch den Bereich der Arbeit. „Genau weil sich die Erlebnisorientierung nicht an diese Aufteilung des Alltags hielt“, so schreibt er, „stellt sie ein wesentliches Kennzeichen der konsum- und arbeitsgesellschaftlichen Subjektkultur dar.“ (S. 263)
Glück mit ihrer Arbeit hatte Anni Topheide, wie ihre Tagebücher zeigen, nicht. Das von ihr als tyrannisch wahrgenommene Verhalten des Textilpatriarchen Bernhard Kluxen irritierte sie von Anfang an, und ließ sie, wie Klaus-Dieter Franke schreibt, auch viele Jahre danach nicht los. Regelmäßig schrieb Anni über ihren „Hass“ auf Kluxen und darüber, dass alles besser wäre, gäbe es nur einen anderen „Chef“. Bleibt die Freizeit – und mit ihr das Fahrrad.
Auch wenn Annis Fahrrad für ihre Freizeitgestaltung, etwa für Ausflüge, eine wichtige Rolle spielte, so soll es hier nicht um diesen Aspekt gehen. In den Fotoalben finden sich einige Bilder von Fahrradausflügen. Es ist allerdings ein anderes Foto, das zumindest mich beim (digitalen) Durchblättern überrascht hat. Roland Barthes hat in seinem berühmten Essay zur Fotografie zwischen studium und punctum unterschieden. Studium meint jene Dimensionen einer Fotografie, die man sich mit Kontextwissen und Interpretation erschließt. Das punctum dagegen „schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren“. (S. 35f.) Mich hat nicht so sehr ein Detail in einem einzelnen Bild, sondern ein Foto in einem der Alben von Anni Topheide durchbohrt.