Anni Topheide und ihr Fahrrad im Fotoalbum. Teil 2

25.06.2024 Marcel Brüntrup

Im frühen 20. Jahrhundert, so schreibt der Historiker Peter-Paul Bänziger, setzte sich bei jungen Angestellten, zu denen auch die 1894 geborene Anni Topheide gehörte, eine neue „Erlebnisorientierung“ durch – in der Freizeit ebenso wie in der Arbeit. So richtig viel Glück mit ihrer Arbeit hatte Anni Topheide nicht. Die dortigen Erlebnisse waren eher negativer Art. Im Textilhaus Kluxen in Münster, wo sie eine Ausbildung als Buchhalterin absolviert hatte und bis 1915 tätig war (bevor sie in die Münsteraner Niederlassung der AEG wechselte und sich 1920 zusammen mit ihrem Mann Hubert Höing selbständig machte), empörte sie immer wieder das Verhalten des „Patriarchen“ Bernhard Kluxen. Ihre Tagebücher geben davon beredtes Zeugnis: „trotz größten Fleißes nie ein Lob u. ein freundlich Wort“. Den Chef habe sie zunächst gefürchtet, rasch kam jedoch „Hass“ hinzu. Konfrontiert mit einem „Tyrannen“ und rücksichtslosen Ausbeuter (so sah Anni das) und angesichts von Umständen, die ihr das eigene Angestelltendasein als „Leibeigenschaft“ erscheinen ließen, blieb also nur die Freizeit, die es umso mehr auszukosten galt. Ihre Fotoalben jedenfalls beinhalten zahlreiche Fotos von Freizeitaktivitäten. Ausflüge, einige mit dem Rad, scheinen regelmäßiger, zumindest regelmäßig fotografisch festgehaltener Bestandteil gewesen zu sein.

Wie bei anderen Angestellten auch, war Anni Topheides Arbeitstag durch Überstunden und Sonntagsarbeit geprägt, ihre Tagebücher berichten davon. Freizeitgelegenheiten wurden daher genutzt, wenn sie sich ergaben. Dabei spielte das Fahrrad eine Rolle. Annis Fotos deuten allerdings nicht auf eine Aneignung des Radfahrens als Sport hin. Sie geben auch keinen Hinweis auf die von Peter-Paul Bänziger für junge männliche Angestellte beobachtete Tendenz, bürgerliches Leistungsstreben in den Bereich des Sports zu übertragen. (Bänziger berichtet von einem jungen Bankangestellten, der die mit dem Rad zurückgelegten Strecken akribisch in einem „Fahrrad Conto“ verzeichnete – teilweise mit Zeitangaben und dem zumindest gefühlten Tempo.) Anni Topheide unternahm dagegen schlicht Ausflüge. Diese verbanden Freizeit, Natur und sportliche Aktivitäten (Fahrradtouren, Ruderpartien, Wandern, Camping, Schwimmen usw.). Selbst wenn es sich nicht um eine Fahrradtour im engeren Sinn handelte, dürfte das Rad oft genug (Verkehrs-)Mittel zum Ziel gewesen sein.

Der (fotografischen) Entdeckung Westfalens als „Wanderland“ könnte man also diejenige als Fahrradausflugsland zur Seite stellen. Es handelt sich um eine Freizeitpraxis, die der Historiker Eric J. Hobsbawm in seinen Erinnerungen euphorisch beschrieb. „Wenn physische Mobilität“, so schrieb er rückblickend über seine Erlebnisse in England und Wales in den frühen 1930er Jahren, „eine wesentliche Bedingung der Freiheit ist, dann war das Fahrrad vermutlich der großartigste Apparat, der seit Gutenberg erfunden wurde, um etwas zu erreichen, das Marx als die volle Verwirklichung der Möglichkeiten des Menschseins bezeichnet hat, und es war der einzige ohne offensichtliche Nachteile.“ Konkret hieß das für ihn: „ein nicht allzu großes Land mit einer erstaunlich schönen und abwechslungsreichen Landschaft zu erkunden“ (er meinte nicht Westfalen) – mit Fahrrad, Zelt, Campingkocher, dem damals neuen Mars-Schokoriegel und seinem Cousin Ronnie.

Es fällt auf, dass Anni Topheides Fotos Gruppenausflüge zeigen: Männer und Frauen gemeinsam. Diskurse um Fahrrad und Geschlecht kreisten tatsächlich seit dem späten 19. Jahrhundert um damit verbundene Themen. Radelnde Frauen waren als Begleiterinnen radelnder Männer vorgesehen, unterstrichen diese doch damit, wie die Historikerin Anne-Katrin Ebert analysiert, ihre „Männlichkeit“. Der radfahrende Mann konnte und sollte die radfahrende Frau „auf ihren gemeinsamen Ausflügen anleiten und beschützen“. Zeitgenössisch wurde zudem betont, dass die gemeinsame Ausfahrt für die jungen Männer unterhaltsamer sei und für junge Frauen die Chancen einer Verlobung erhöhte. Das, so Ebert, machte die Radpartie zu einer Fortsetzung der kulturellen Praxis des Spaziergangs als Möglichkeit der Kontaktaufnahme der Geschlechter.

Eine weitere Sache fällt auf: Anni und ihre Freundinnen radelten im Rock bzw. Kleid. Auch wenn Radhosen für Damen bereits seit einiger Zeit verfügbar waren, war die Kleiderordnung der Geschlechter in Bezug auf das Fahrrad lange ein Streit- und Diskussionspunkt. Einerseits betraf das die Frage des Korsetts, dessen Wegfall durchaus auch Mediziner seit dem frühen 20. Jahrhundert begrüßten. Andererseits sahen sich Frauen häufiger als Männer mit ästhetischen Vorbehalten konfrontiert, wenn sie nicht nur auf ein Korsett, sondern zugunsten einer Hose auch auf Rock oder Kleid verzichteten. Zeitgenössische Autoren, so schreibt Anne-Katrin Ebert, rieten Frauen, „ehrlich zu prüfen, ob ihr Körperbau der Männertracht entgegen komme.“ Diese Diskussionen hielten Frauen offenbar nicht davon ab, in einer Hose auf das Rad zu steigen – aber auch nicht davon, es im Rock zu tun, der eigentlich als ungeeignet galt, von vielen Frauen durchaus auch als „unpraktisch“ erfahren und von einigen Radaktivistinnen polemisch attackiert wurde.

Abbildungen

Höing, Anni: Fotoalbum 1, 1912–1931, Digitalisat, 38 Seiten, ULB Münster, Signatur: N. Höing Digital 1 (https://sammlungen.ulb.uni-muenster.de/urn/urn:nbn:de:hbz:6:1-246199).

Literatur

Bänziger, Peter-Paul: Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft, 1840–1940. Göttingen 2020.

Ebert, Anne-Katrin: Radelnde Nationen. Die Geschichte des Fahrrads in Deutschland und den Niederlanden bis 1940. Frankfurt am Main 2010.

Franke, Klaus-Dieter: Die Tagebücher der jungen Anna Topheide (verheiratete Höing) aus Münster 1908–1929. Von weiblicher Aneignung der Welt in schwierigen Zeiten, Münster 2019, URL: https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6-33109453756.

Hobsbawm, Eric J.: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert. München 2003.

Universitäts- und Landesbibliothek Münster: Nachlass Anni Höing (https://www.ulb.uni-muenster.de/sammlungen/nachlaesse/nachlass-hoeing.html)

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