Timo Luks
Weihnachten 1911 ging Anni Topheide, von der hier bereits die Rede war, zu einer musikalischen Veranstaltung. Sofort war sie „innerlich sehr aufgeregt“ und am Folgetag bereits eine Stunde vor Beginn „fix u. fertig im rosa Mousselinkleid mit den schwarzen Sammtbändchen u. dem grossen roten Hut.“ Beim Konzert traf sie ihn dann wieder: Herrn Höing. Sie sah „in ein Paar schöne blaue Augen“. Er bot ihr das Du an – und die Liebesgeschichte nahm ihren Lauf. Einige Zeit nach dem Weihnachtskonzert brachte Hubert sie „immer zum Geschäft“, dem Textilkaufhaus Kluxen in Münster, und holte sie „auch immer wieder ab.“ Annis Mutter mochte das nicht. Das Tagebuch enthält dann noch einen kurzen Eintrag über den ersten Kuss und ihre Unsicherheit, ob das Sünde sei. Hubert beugte sich Annis Wunsch, sie (vorerst) nicht erneut zu küssen. Diese Schilderungen sind undatiert, alles spielte sich aber wohl im Januar 1912 ab. Die beginnende Beziehung mit ihrem späteren Mann Hubert Höing überlagerte den Jahreswechsel 1911/1912 vollständig. Sie war das einzige Thema, über das Anni in ihrem Tagebuch noch schrieb, bevor eine längere Phase ohne Einträge folgte.
Mit dem Wiedereinsetzen des Tagebuchschreibens im Oktober 1912 resümierte Anni einige glückliche Monate, aber auch den Umstand, wie schwer es Hubert – und auch ihr – fiel, sich an das selbst auferlegte Kussverbot zu halten. Der Eintrag vom 6. November geht erstmalig auf Schwierigkeiten ein, die die Beziehung begleiteten: „Hubert und ich halten in reiner Freundschaft zusammen u. statt dass sich die Leute mit uns freuen, zetteln sie nur Quatsch an, ich kann es mir nur als Neid erklären. Mutter muss es von vielen Leuten in sticheligen Bemerkungen hören.“ Da sie vor Gott bestehen könne, so Anni, trage sie aber „den Quatschbasen gegenüber den Kopf nochmal so hoch.“
Vor allem schien Huberts Mutter „schrecklich böse“ auf Anni zu sein. Die meisten älteren Leute, so sah Anni das, hätten wohl vergessen, dass sie selbst einmal jung waren – „oder aber wie bei Huberts Mutter, die sehr religiös ist und erst mit 40 Jahren geheiratet hat, gibt es eben keine echte Herzensliebe, sondern nur eine relig. Liebe und Pflichtliebe.“ Die Situation war offenbar schwierig. Hubert hatte „Unannehmlichkeiten zu Hause“ zu ertragen. Aber, so Anni: „Wieviel lieber muss ich ihn nun haben, wo er so still mir gegenüber alles trägt, was ihm zu Hause wegen meiner in den Weg gelegt wird.“ In der Folgezeit machte Anni sich Gedanken über die Gründe der Abneigung ihr gegenüber, kam aber zu keinem rechten Ergebnis.
Im Dezember 1912 – das Weihnachtsgeschäft im Kaufhaus Kluxen hatte bereits begonnen – berichtete Anni, dass sie ihre Mutter „in Tränen aufgelöst“ zu Hause angetroffen habe. Der Kaplan
„ist bei ihr gewesen u. hat ihr in knapper, ja in meinen Augen geradezu unhöflicher Form Vorwürfe über mein Verhältnis zu [Hubert] gemacht. Es seien schon verschiedentlich Leute bei ihm gewesen u. haben ihm die Ohren vollgehangen [?]. […] Was in mir vorgeht, kann ich nicht schildern. Vergebens suche ich nach Schuld u. finde keine. Welche Menschen sind mir so feindlich gesinnt? Welchen habe ich in meiner reinen Liebe zu Dir ein Leid getan? Kaum habe ich einen Kuss von Dir geduldet u. nun schickt man mir wie einer Dirne den Kaplan ins Haus.“
In Anni Topheides Tagebucheinträgen zwischen Oktober 1912 und 1913 begegnen uns Schilderungen zahlreicher Freizeitaktivitäten und allerlei Begebenheiten. Als dann aber der Jahreswechsel vollzogen war und Anni diesen Moment – wie sicher viele andere Tagebuchschreiberinnen und Tagebuchschreiber auch – zum Innehalten und Bilanzieren nutze, war vieles davon in den Hintergrund getreten.