„Kaum habe ich einen Kuss von Dir geduldet u. nun schickt man mir wie einer Dirne den Kaplan ins Haus.“ Anni Topheides Stimmung zwischen den Jahren (1912/13)

14.01.2025 Niklas Regenbrecht

Timo Luks

Weihnachten 1911 ging Anni Topheide, von der hier bereits die Rede war, zu einer musikalischen Veranstaltung. Sofort war sie „innerlich sehr aufgeregt“ und am Folgetag bereits eine Stunde vor Beginn „fix u. fertig im rosa Mousselinkleid mit den schwarzen Sammtbändchen u. dem grossen roten Hut.“ Beim Konzert traf sie ihn dann wieder: Herrn Höing. Sie sah „in ein Paar schöne blaue Augen“. Er bot ihr das Du an – und die Liebesgeschichte nahm ihren Lauf. Einige Zeit nach dem Weihnachtskonzert brachte Hubert sie „immer zum Geschäft“, dem Textilkaufhaus Kluxen in Münster, und holte sie „auch immer wieder ab.“ Annis Mutter mochte das nicht. Das Tagebuch enthält dann noch einen kurzen Eintrag über den ersten Kuss und ihre Unsicherheit, ob das Sünde sei. Hubert beugte sich Annis Wunsch, sie (vorerst) nicht erneut zu küssen. Diese Schilderungen sind undatiert, alles spielte sich aber wohl im Januar 1912 ab. Die beginnende Beziehung mit ihrem späteren Mann Hubert Höing überlagerte den Jahreswechsel 1911/1912 vollständig. Sie war das einzige Thema, über das Anni in ihrem Tagebuch noch schrieb, bevor eine längere Phase ohne Einträge folgte.

Mit dem Wiedereinsetzen des Tagebuchschreibens im Oktober 1912 resümierte Anni einige glückliche Monate, aber auch den Umstand, wie schwer es Hubert – und auch ihr – fiel, sich an das selbst auferlegte Kussverbot zu halten. Der Eintrag vom 6. November geht erstmalig auf Schwierigkeiten ein, die die Beziehung begleiteten: „Hubert und ich halten in reiner Freundschaft zusammen u. statt dass sich die Leute mit uns freuen, zetteln sie nur Quatsch an, ich kann es mir nur als Neid erklären. Mutter muss es von vielen Leuten in sticheligen Bemerkungen hören.“ Da sie vor Gott bestehen könne, so Anni, trage sie aber „den Quatschbasen gegenüber den Kopf nochmal so hoch.“

Vor allem schien Huberts Mutter „schrecklich böse“ auf Anni zu sein. Die meisten älteren Leute, so sah Anni das, hätten wohl vergessen, dass sie selbst einmal jung waren – „oder aber wie bei Huberts Mutter, die sehr religiös ist und erst mit 40 Jahren geheiratet hat, gibt es eben keine echte Herzensliebe, sondern nur eine relig. Liebe und Pflichtliebe.“ Die Situation war offenbar schwierig. Hubert hatte „Unannehmlichkeiten zu Hause“ zu ertragen. Aber, so Anni: „Wieviel lieber muss ich ihn nun haben, wo er so still mir gegenüber alles trägt, was ihm zu Hause wegen meiner in den Weg gelegt wird.“ In der Folgezeit machte Anni sich Gedanken über die Gründe der Abneigung ihr gegenüber, kam aber zu keinem rechten Ergebnis.

Im Dezember 1912 – das Weihnachtsgeschäft im Kaufhaus Kluxen hatte bereits begonnen – berichtete Anni, dass sie ihre Mutter „in Tränen aufgelöst“ zu Hause angetroffen habe. Der Kaplan

„ist bei ihr gewesen u. hat ihr in knapper, ja in meinen Augen geradezu unhöflicher Form Vorwürfe über mein Verhältnis zu [Hubert] gemacht. Es seien schon verschiedentlich Leute bei ihm gewesen u. haben ihm die Ohren vollgehangen [?]. […] Was in mir vorgeht, kann ich nicht schildern. Vergebens suche ich nach Schuld u. finde keine. Welche Menschen sind mir so feindlich gesinnt? Welchen habe ich in meiner reinen Liebe zu Dir ein Leid getan? Kaum habe ich einen Kuss von Dir geduldet u. nun schickt man mir wie einer Dirne den Kaplan ins Haus.“

In Anni Topheides Tagebucheinträgen zwischen Oktober 1912 und 1913 begegnen uns Schilderungen zahlreicher Freizeitaktivitäten und allerlei Begebenheiten. Als dann aber der Jahreswechsel vollzogen war und Anni diesen Moment – wie sicher viele andere Tagebuchschreiberinnen und Tagebuchschreiber auch – zum Innehalten und Bilanzieren nutze, war vieles davon in den Hintergrund getreten.

Tagebucheintrag von Anni Topheide, 3. Januar 1913.

„Münster, 3. Januar 1913. Schon 1913! Im Glück flieht die Zeit so schnell, im Unglück so langsam. Für uns hat das vergangene Jahr keine grossen Leiden gehabt. Mutter, Vater, Großvater, [meine Schwester] Rike und ich sind alle gesund wie die Fische im Wasser u. das ist ein grosser Wert. Dann hat mir das vergangene Jahr ein grosses Geschenk gebracht – Mein Lieb! Das Jahr 1912 war glücklich für uns, 1913 wird nicht so glücklich sein, denn man wird alles aufbieten, Hubert und mich zu trennen. Warum? So frage ich mich immer wieder. Soll ich es religiösen Wahnsinn nennen? Ja wirklich, denn ich wüsste nicht, was unseren Herrgott an dem Verkehr zwischen uns missfallen sollte. Es ist doch so etwas Schönes, Ideales um eine reine, treue Liebe und warum nur will man uns trennen. […] Neujahr haben wir daheim im engsten Familienkreis gefeiert, das ist so schön! Ob Hubert es zu Hause auch so gemütlich hat? Ich glaube kaum, früher vielleicht, jetzt nicht mehr.“

„Religiöser Wahnsinn“? Dieses Deutungsmuster als Erklärung für ihre und Huberts Situation, oder genauer: für die Reaktionen ihres sozialen Umfelds hatte sich Schritt für Schritt herauskristallisiert. Nachdem andere Erklärungsversuche – etwa der Umstand, dass Huberts Familie wohlhabender war als ihre eigene – sie nicht recht überzeugten, ergründete Anni Topheide die unterschiedlichen Ausprägungen von Religiosität und Frömmigkeit der Beteiligten. Und, das muss betont werden: Es ging hier um innerkatholische, nicht um interkonfessionelle Unterschiede. Bereits die zitierten Passagen zeigen, dass der Glaube und die Religion für Anni eine wichtige Rolle spielten. Sie war gläubig, und ihr Glaube war Richtschnur für ihr alltägliches Verhalten. Aber das war eine Angelegenheit zwischen ihr und „unserem Herrgott“, keine Sache eines unhöflichen Kaplans oder einer zukünftigen Schwiegermutter, deren Religiosität sie blind machte für „Herzensliebe“. Die Selbstbehauptung einer jungen Frau gegenüber den kirchlichen und sozialen Autoritäten in ihrem Umfeld war allem Anschein nach auch der Weg, auf dem Anni Topheide ihr eigenes Verständnis von Religion und Glauben entwickelte – und zu behaupten suchte.

 

Literatur:

Topheide, Anni, Tagebuch 1, 4/1908–11/1913, Nachlass Höing, Signatur: N. Höing 1,001, Digitalisat: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:6:1-246099.

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Schlagworte: Kaiserzeit · Timo Luks