Arbeitspartner, Reittier, Repräsentationsmittel. Pferde in ländlichen Familienfotoalben.

19.05.2023 Marcel Brüntrup

Marcel Brüntrup

Pferde haben die westfälische Landschaft und Kultur maßgeblich geprägt und waren bis vor wenigen Jahrzehnten aus dem alltäglichen Leben kaum wegzudenken. Dies spiegelt sich auch in den bäuerlich-ländlichen Familienfotoalben wider, welche die Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen im Rahmen eines Dokumentations- und Forschungsprojekts gesammelt und digitalisiert hat. So finden sich in einem Großteil der insgesamt 90 Alben und vier Einzelbild-Konvolute zahlreiche Fotografien, die Pferde in verschiedenen Bildzusammenhängen zeigen und ihre Allgegenwärtigkeit in der ländlichen Gesellschaft Westfalens dokumentieren.

Pferde bei der Feldarbeit. 1930er–1940er Jahre. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Sammlung BF Nr. 1 S22.

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren Pferde in fast alle landwirtschaftlichen Arbeitsprozesse eingebunden. Als Zug- und Arbeitstiere wurden sie zum Ziehen von Fuhrwerken, zum Antrieb von Göpeln und zum Bestellen der Äcker eingesetzt. Herkömmliche Ackerwagen und die meisten Arbeitsgeräte wurden ein- oder zweispännig verwendet, für einen Pflug waren je nach Bodenschwere und Pflugtiefe bis zu drei Pferde notwendig. Bevor die Arbeitstiere durch Traktoren abgelöst wurden, benötigte ein 150 bis 200 Morgen großer Betrieb vier bis sechs Pferde, die jeweils immerhin etwa acht Pfund Hafer und zehn Pfund Heu pro Tag verzehrten. Pferde waren zwar vielfältig einsetzbar und anderen Zugtieren wie Kühen oder Ochsen hinsichtlich ihrer Ausdauer überlegen, jedoch auch sehr teuer in der Anschaffung und im Unterhalt. Die Anzahl der Pferde erlaubte somit sowohl Rückschluss auf die Hofgröße, als auch auf die Wirtschaftskraft und den sozioökonomischen Status des landwirtschaftlichen Betriebs. Aus diesem Grund galten Pferde traditionell als Ausdruck bäuerlichen Stolzes, was sich auch in der bäuerlichen Bildkultur niederschlug.

Hofansicht mit Familie, Gesinde und Pferden. Um 1900. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Sammlung BF Nr. 22b S1.
Inszenierung des Anerben zu Pferde, der Vater hält (noch) den Zaum. An anderer Stelle wurde das Foto so zugeschnitten, dass der Vater nicht mehr im Bild ist. 1910er Jahre. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Sammlung BF Nr. 14e S52.

In den vorliegenden Fotoalben finden sich zahlreiche Fotografien, auf denen Hofbesitzer und Pferdezüchter ihren Pferdebestand präsentieren. Auf obigem Foto beispielsweise, das um 1900 vermutlich noch von einem professionellen Fotografen angefertigt worden ist, hat sich die Bauernfamilie gemeinsam mit Kötter, Magd, Tagelöhner, ihren sechs Pferden und einem Fohlen vor ihrem Hof ablichten lassen. Die Bildsprache ist eindeutig: Es handelt sich hier um einen großbäuerlichen Betrieb mit entsprechender Wirtschaftsleistung. Wie bei derartigen Aufnahmen üblich, wurde das Bild zentral auf der ersten Seite des Albums eingeklebt und drückt so die Identifikation der Familie mit der Hofstelle und den damit verbundenen Stolz aus. Mit der Inszenierung der Pferde wurde darüber hinaus häufig die Aufnahme des Anerben verbunden, der die Aussicht auf die Weiterführung des Hofes verkörperte. Während der Sohn im obigen Bild vertraut das kleine Fohlen umarmt, wurden Kinder – insbesondere Jungen – oftmals auf dem Rücken eines meist ungesattelten Pferdes fotografiert. Diese Bilder dokumentieren zum einen die praktische Heranführung der Kinder an den Umgang mit den Arbeitstieren, zum anderen die symbolische Vorbereitung des Anerben auf die Leitung des Hofes.

Familienkutsche. Der Vater sitzt mit seinem Sohn vorne auf dem Kutschbock. 1930er–1940er Jahre. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Sammlung BF Nr. 14g S7.

Ein weiteres Repräsentationsmittel war das Kutschgespann, das im bäuerlichen Umfeld offen den Wohlstand seiner Besitzer demonstrierte. Besonders häufig finden sich in den Alben Fotos von Kutschen, die zu feierlichen Anlässen, zumeist Hochzeiten, zum Einsatz kamen. Aber auch private Fahrten mit Pferdegespannen wurden fotografisch inszeniert. Die Größe des Gespanns und die Wertigkeit der Tiere verdeutlicht dabei den sozialen Status der abgebildeten Personen.

Im Zuge der fortschreitenden Mechanisierung der Landwirtschaft verlor das Pferd nach und nach seine Bedeutung als Zug- und Arbeitstier, die Kutsche als Repräsentationsmittel wurde vom Auto abgelöst. Der Status des Pferdes als Reittier in Sport, Freizeit und Vereinswesen blieb jedoch erhalten. Einige Zucht-, Reit- und Fahrvereine Westfalens können auf eine Geschichte bis ins 19. Jahrhundert zurückblicken, als die meisten ihrer Mitglieder noch in der preußischen Kavallerie ausgebildet worden waren. Der Großteil der westfälischen Vereine entstand in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg und übernahm fortan anstelle des Militärs die Ausbildung und Förderung des Reiternachwuchses. Ihre Mitglieder führten die reiterlichen Traditionen fort und beteiligten sich rege an Umzügen, Prozessionen, Reiterfesten, Fuchsjagden, Schützenfesten, Turnieren, Hochzeiten und Beerdigungen – oftmals bis in die heutige Zeit. Die im ländlichen Raum allgegenwärtige Präsenz der Reitvereine lässt sich in zahlreichen Fotoalben nachvollziehen und unterstreicht ihre kulturelle wie soziale Bedeutung im bäuerlichen Milieu.

Eine Hochzeit mit Pferden. 1950er–1960er Jahre. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Sammlung BF Nr. 2 S29.

Eingebunden in die landwirtschaftlichen Arbeitsprozesse und fest in der ländlichen Gesellschaft verankert, galten Pferde vielen als verlässliche Partner nicht nur bei der Arbeit, sondern auch im gesellschaftlichen und kulturellen Alltag. Im Gegenzug wurde ihnen besondere Wertschätzung zuteil. Als Ausdruck des Bauern-, Sportler- und Züchterstolzes erhielten Pferde im Gegensatz zu den meisten anderen Hoftieren Eigennamen, die in manchen Fotoalben sorgfältig notiert wurden, selbst wenn die Namen der abgebildeten Personen fehlen. Dies verweist auf ihre eigentümliche Position zwischen Nutz- und Haustieren. Das spezifische Verhältnis zwischen Mensch und Pferd scheint auch in den Alben durch: Zwar erschwert ihre Größe, anders als etwa bei Hunden, die intime Darstellung einer affektiven Mensch-Tier-Beziehung, doch lässt sich auf manchen Fotografien die emotionale Verbindung und Vertrautheit der Menschen zu/mit ihren Pferden erahnen. So haben Pferde in den Fotoalben einen besonderen Stellenwert und erscheinen nicht nur als fester Bestandteil der Hofgemeinschaft, sondern in einigen Fällen beinahe auch als Familienmitglieder – eine Position, die ansonsten lediglich Hunden vorbehalten bleibt.

Familienporträt mit Hund und Pferden. 1950er Jahre. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Sammlung BF Nr. 1 S38.

Die vielfältige Rolle der Pferde in der ländlichen Gesellschaft und insbesondere in den bäuerlichen Familien Westfalens gilt es anhand ihrer Präsentation in den Fotoalben eingehender zu untersuchen. Dabei eröffnen die variantenreichen Fotografien diverse Forschungsfragen, die über die bloße Nutzung von Pferden als Arbeits-, Zug- und Reittiere hinausgeht. So lassen sich unter Bezug auf aktuelle Ansätze aus dem Bereich der Human-Animal Studies die Verhältnisse, Beziehungen und Interaktionen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren untersuchen.

Literatur

Eva-Maria Amberger, Ohne Pferde ging nichts. Haltung, Nutzung und Brauchtum des ländlichen Arbeitspferdes um 1900, Münster-Hiltrup 32001.

Siegfried Becker, Tierfotografien in der bäuerlichen Bildkultur. Zur visuellen Anthropologie der Mensch-Tier-Beziehungen, in: Carola Lipp (Hg.), Medien popularer Kultur. Erzählung, Bild und Objekt in der volkskundlichen Forschung, Frankfurt 1995, S. 406–416.

Friedrich Jaeger (Hg.), Menschen und Tiere. Grundlagen und Herausforderungen der Human-Animal Studies, Stuttgart 2020.