„auf die Leibzucht ziehen“ – Altersversorgung in Ostwestfalen im 19. Jahrhundert

22.10.2024 Marcel Brüntrup

Christine Fertig

Bevor die Heirat Anfang September 1832 im ostwestfälischen Löhne stattfinden sollte, überschrieben die Eltern der Braut Maria Charlotte Ilsabein Hartmann und ihrem Verlobten Heinrich Friedrich Wilhelm Osterholz ihren Hof in der Bauernschaft Löhne. Die Eltern Bernhard Heinrich Hartmann und Maria Charlotte Fränsemeyer wollten den Hof noch bis zur Heirat des jungen Paares weiterführen, sich dann aber bald auf ihr Altenteil zurückziehen. In dieser Gegend gehörten zu vielen Höfen Leibzuchtshäuser, die bei Bedarf den alten Bauern und Bäuerinnen zur Verfügung standen. Die Leibzucht sollte für eine standesgemäße Lebensführung der alten Leute sorgen. Das bedeutete aber keineswegs, dass diese umfassend versorgt wurden. Zu der Leibzucht, die das Ehepaar Hartmann beziehen wollte, gehörten neben dem Haus mehrere Stücke Land, die sie selbst bestellen mussten – nur das Pflügen und Einfahren der Ernte sollte der Jungbauer übernehmen. Daneben durften sie die Ernte von vier Obstbäumen ernten, und eine Kuh, ein Schwein und vier Hühner mit auf die Leibzucht nehmen. Die Kuh würde mit dem übrigen Vieh des Hofes auf die Weide gehen, und sollte für die Milchversorgung der Altenteiler sorgen.

Ansicht eines ehemaligen Leibzuchthauses in Löwendorf, Marienmünster (Kreis Höxter), Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Fotograf Bernhard Klocke, Inv.-Nr. 2000.02089.

Auch der verwitwete Heinrich Wilhelm Sohnsmeyer entschied sich im Mai 1835, seinen Hof einen Monat vor der Hochzeit an seine Tochter Anne Marie Catharine Engel und ihren Verlobten Friedrich Meyer aus Mennighüffen zu übertragen. Das Leibzuchtshaus, zu dem auch ein Teil des Gartens gehörte, sollte durch die neuen Hofbesitzer in Stand gesetzt werden, nachdem die Mieter es geräumt hatten. Zu der Leibzucht sollte nicht nur das ‚Leibzuchtsstück‘ gehören, sondern eine weitere Parzelle Ackerland, eine Wiese und ein Stück ‚Holzwuchs‘. Die Kuh, die mit auf das Altenteil genommen werden durfte, sollte auch hier mit der Herde des Hofes weiden. Dazu stand dem alten Bauern das Recht zu, sich Möbel auszusuchen, und ‚den neunten Teil‘ der vorhandenen Lebensmittel mitzunehmen. An der jährlich zu zahlenden Grundsteuer musste er sich allerdings auch zu einem Neuntel beteiligen, und seine Ländereien selbst bearbeiten.

Diese detaillierten Regelungen traten jedoch nicht sofort in Kraft. Nur wenn das junge Paar und der Altbauer sich nicht verstehen würden, stand es dem Vater bzw. Schwiegervater frei, die vertraglich vereinbarte Leibzucht einzufordern. Dann mussten die jungen Bauern den Mietern kündigen, die das Haus als Heuerlinge bewohnten, und das Haus und das erwähnte Zubehör für die Leibzucht zur Verfügung stellen. Im Kirchspiel Löhne war es wie in vielen Gegenden üblich, dass Jung und Alt unter einem Dach, im selben Haushalt lebte. Ob dieses Zusammenleben auf gegenseitiger Zuneigung beruhte, wissen wir nicht; über die Gefühlslage der Menschen schwiegen sich die Quellen zumeist aus. Auch wenn einzelne Fälle dokumentiert sind, die von erheblichen Spannungen zeugen und sogar vor Gericht endeten, gingen die Familien in der Regel davon aus, dass sie sich auf ein auskömmliches Miteinander im Alltag würden einigen können. In den Hofübergabeverträgen war die Einrichtung eines separaten Haushaltes für die Altenteiler immer nur eine mögliche Lösung für den Konfliktfall; viele Familien verzichteten sogar darauf, diese Option überhaupt in den Vertrag aufzunehmen. Sicher waren hier aber auch wirtschaftliche Erwägungen im Spiel: solange das Leibzuchtshaus vermietet war, verbesserten nicht nur die Mieteinnahmen die wirtschaftliche Situation des Hofes, sondern auch die Dienste, zu denen Heuerlinge verpflichtet waren. In Zeiten mit hohem saisonalen Arbeitskräftebedarf, wie der Aussaat, der Heumahd oder der Getreideernte, mussten die Heuerlinge und ihre Familien mitarbeiten und stellten so ein wichtiges Element der vormodernen Landwirtschaft dar. „Auf die Leibzucht ziehen“ bedeutete daher auch, dass die Höfe auf die Einnahmen und die zusätzlichen Arbeitskräfte verzichten mussten.

Quellen und Literatur:

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Ostwestfalen, D 23 B, Nr. 50113, S. 48.

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Ostwestfalen, D 23 B, Nr. 50120, S.43.

Fertig, Christine: "Stem families in Rural Northwestern Germany? Family systems, intergenerational relations and family contracts", The History of the Family 23 (2018): 196-217.

Lünnemann, Volker: "Der Preis des Erbens. Besitztransfer und Altersversorgung in Westfalen, 1820-1900", in: Brakensiek, Stefan, Michael Stolleis and Heide Wunder (Hg.), Generationengerechtigkeit. Normen und Praxis im Erb- und Ehegüterrecht 1500-1850, Zeitschrift für Historische Forschung, Beihefte (Berlin: Duncker & Humblot, 2006), S. 139–162.

Sebastian Schröder: Friede, Freude, Leibzüchter? Generationenkonflikte im Mindener Land der Frühen Neuzeit. In: Graugold. Magazin für Alltagskultur, 3(2023), S. 36-46.