Niklas Regenbrecht
Vor einhundert Jahren, im März und April 1920, erschütterte der so genannte Märzaufstand Teile Westfalens und des Rheinlandes. Nach seinem räumlichen Epizentrum wurde und wird dieses Ereignis auch als Ruhrkampf, Ruhraufstand oder Märzunruhen bezeichnet. Der Auslöser lag jedoch in Berlin, wo es am 13. März zum Kapp-Lüttwitz-Putsch gekommen war, als rechtsradikale Kreise um den ostpreußischen Landschaftsdirektor Wolfgang Kapp und General Walther von Lüttwitz versuchten, mithilfe von Freikorps die Reichsregierung zu übernehmen. Die legitime sozialdemokratisch geführte Regierung floh aus Berlin und rief zum Generalstreik auf. Der Putschversuch war nach vier Tagen gescheitert. Der begonnene Generalstreik wuchs sich jedoch in einigen Regionen Deutschlands weiter aus, vor allem im Ruhrgebiet. Verschiedene linke Arbeiterorganisationen übernahmen lokal die Macht und versuchten, die im Jahr zuvor gescheiterte proletarische Revolution weiterzuführen. Binnen weniger Tage bildete sich eine „Rote Ruhrarmee“. Bei gewaltsamen Zusammenstößen mit Freikorps und Reichswehr, mitunter auch bei regelrechten Gefechten wie bei Pelkum nahe Hamm, sowie verschiedenen Übergriffen und Erschießungen kamen über 1.500 Menschen ums Leben.
Ein ehemaliger Lehrer aus Wolbeck verfasste 50 Jahre später, im Februar 1970 einen Bericht für das damalige Archiv für westfälische Volkskunde in Münster (heute Archiv für Alltagskultur in Westfalen). Zu diesem Zeitpunkt war er bereits seit längerem als Gewährperson für das Archiv tätig gewesen und hatte verschiedene Berichte verfasst und eingereicht.
In dem achtseitigen Bericht schilderte der 1902 geborene Heinrich L. seine Erlebnisse während des Ruhraufstandes in Recklinghausen, wo er am Lehrerseminar eingeschrieben war, und den Weg zurück zu seinen Eltern nach Lavesum, heute ein Ortsteil von Haltern am See. Er betitelte seinen Text „Der Spartakistenaufstand im März 1920“. Unter dem Begriff „Spartakusaufstand“ werden heute allerdings meist die Kämpfe im Januar 1919 in Berlin gefasst. Zu Beginn seines Berichtes schilderte er die anfängliche Unsicherheit seiner Umgebung:
„Am 18. März 1920 [vermutlich gemeint: 13. März] befand sich mittags um 1 Uhr am ‚Schwarzen Brett‘ unsere[s] Seminars ein Extrablatt mit der überschriftlichen Schlagzeile: Sturz der Regierung! Die wenigen nachfolgenden, ebenfalls ziemlich groß gedruckten Zeilen besagten, daß Kapp gemeinsam mit General von Lüttwitz im Begriffe war, durch einen Putsch die Regierung in Berlin an sich zu reißen. Auf dem Wege von der Schule zu meinem Quartier sah ich, wie auch an Straßenpassanten Extrablätter verteilt wurden.
Am nächsten Vormittag, als noch keine Klarheit darüber bestand, ob der Putsch gelungen war oder nicht, diskutierten wir Seminaristen mit unseren Lehrern über die ‚Lage der Nation‘, und erst hierbei zeigte es sich, welche Lehrer und welche Schüler sich schon mit der jungen Weimarer Republik abgefunden hatten und welche noch nicht, denn alle verspürten ja noch Nachwirkungen von der nationalistischen Kaiserzeit her.“
Auffallend für die damaligen Beobachter, wie auch für unseren hier zitierten Gewährsmann, war die schnelle Bewaffnung der Arbeiter, teils auch mit schwerem Gerät:
„In ganz wenigen Tagen nach dem Kapp-Putsch waren fast alle Kommunisten Recklinghausens mit Karabinern und Seitengewehren bewaffnet, was angesichts der Tatsache, daß 1918 viele Soldaten mit ihren Waffen vom Militär entlassen würden, ganz leicht zu verstehen ist. Einige trugen die Seitengewehre an um den Leib gebundenen Bindfäden. Die größte Gefahr bestand nun darin, daß auch Jugendliche bewaffnet waren, denn diese schossen oft ohne Anlaß und ohne Ziel einfach wild in die Gegend hinein. Mit Beginn der Dunkelheit waren alle Straßen leer, wie 3 Jahre später bei ausgerufenem Belagerungszustand während des Ruhrkampfes.
Doch damit noch nicht genug. Bei den Bauern im Landkreis requirierte man Pferde und Wagen zum Transport von Materialien zur Lippe zum Aufbau von Verteidigungsstellen für den Fall eines Einsatzes der Reichswehr. Doch die Bauern gaben ihre Pferde und Wagen nicht aus der Hand und stellen sich selber als Gespannführer zur Verfügung. Aus Herne und Bochum kommend fuhren LKWs durch Recklinghausen, auf denen dicht aneinander bewaffnete Männer und Jugendliche standen, die ebenfalls zur Lippe fuhren. An einige Lastwagen waren Geschütze gekoppelt. Es bleibt bis heute ein Rätsel, wo diese vom Kriege her aufbewahrt worden waren, aber daß sie auch zur Lippe sollten, das wußte man. Wir stehen also hier wieder vor einer Parallelen zum Ruhrkampf, denn da wurde die Lippe zur Demarkationslinie erklärt.
Mit dieser Verbarrikadierung der Lippe bei Haltern waren natürlich auch die beiden Übergänge über den Fluß unterbunden, wovon der eine die Eisenbahnbrücke der Linie Köln – Hamburg ist. Für mich ergab sich dadurch die Schwierigkeit, mit Beginn der Osterferien zu meinem Elternhaus nach Lavesum zu kommen, obwohl es sich dabei nur um eine Entfernung von 25 km handelte.“