Natürlich ohne Fahrschein. Die Aufstände im Ruhrgebiet 1920 aus Sicht eines Lehrerseminaristen (Teil 2/2)

28.04.2020

Nachtrag zu dem Bericht des Lehrers, er sendet einen Zeitungsartikel, der den Aufstand thematisiert. Foto: Cantauw/LWL.

Niklas Regenbrecht

[Teil 1 hier]

L. entschied sich dagegen, die 25 km lange Strecke von Recklinghausen nach Lavesum zu Fuß zurückzulegen, da sein Versuch beim neu eingesetzten spartakistischen Bürgermeister von Recklinghausen eine Erlaubnis zum Überqueren der Lippebrücke zu erlangen, an den bewaffneten Jugendlichen vor dem Rathaus gescheitert war. So versuchte er die Strecke über einen Umweg mit Straßenbahn und Reichsbahn zurückzulegen, von Recklinghausen mit Umstiegen in Herne, Dortmund, Hamm und Münster. Er gelangte aber nur bis Appelhülsen, sodass er immer noch 25 km zu Fuß zurücklegen musste.

„Die Fahrt klappte aber nicht reibungslos. Schon in Recklinghausen bestieg eine Gruppe bewaffneter Jugendlicher mit mir die Straßenbahn, die natürlich keine Fahrscheine lösten und ein Lied anstimmten mit dem Refrain: Glücklich ist ein Spartakist, der noch unter Waffen ist. – Alle Züge verkehrten unabhängig von ihrer fahrplanmäßigen Ordnung.“

L. schilderte anschließend, wie er abends den elterlichen Hof erreichte, zeitgleich mit seinen Eltern, die sich aus Furcht vor den Spartakisten zwei Tage im Moor versteckt hatten.

Die Wirtschaftsgebäude fanden sie bereits von Reichswehrsoldaten aus Münster belegt, die dort ihr Nachtquartier aufgeschlagen hatten. Die Reichswehreinheiten wurden im Auftrag der legitimen Reichsregierung ins Ruhrgebiet entsandt, um den Aufstand niederzuschlagen. Weite Teile der Arbeiterschaft sahen diese aber eher auf Seiten der rechten Putschisten, was die Situation eher verschärfte als entspannte. Da die Reichswehreinheiten aus Richtung Münster heranrückten, spielte die Lippe während der Auseinandersetzungen eine Rolle als militärische Verteidigungslinie.

„Am nächsten Morgen um 5 Uhr rückten die Soldaten ab in Richtung Haltern und Punkt 6 Uhr vernahmen wir von Haltern herübertönend Kanonenschüsse und MG-salven, aber nur ½ Stunde.
Gegen 7 Uhr begab ich mich heimlich nach Haltern zur Erforschung der Lage, wobei ich den durch einen Hochwald führenden Richtweg einschlug. Dort gewahrte ich versprengte spartakistische Jugendgruppen, die unbewaffnet nach Unterschlupf suchten. […]
Gegen 8 Uhr betrat ich die menschenleere Stadt Haltern. Nicht einmal ein Ordnungsdienst war zurückgeblieben, denn die Evakuierung hatte sich beim Herannahen der Reichswehr am Tage vorher spontan vollzogen, weil man Artillerie-Beschuß aus dem Lager der Spartakisten erwartete. Es wurde mir unheimlich, mich allein in einer Stadt zu wissen, obwohl für das Aufkommen irgendwelcher Gefahr keine Gründe bestanden. […] Die Stadt war unversehrt geblieben allerdings war der Giebel des Hauses meines Bruders von einem Artillerie-Volltreffer durchschlagen worden, aber nur von einem Blindgänger. Aber an der Lippe sah es schon anders aus. Alle von den Aufständischen errichteten provisorischen Verteidigungsanlagen waren zerstört, und die Lippebrücke selbst von breiten Rissen durchzogen. Aber die von den Spartakisten angelegte Sprengladung war offenbar zu leicht gewesen, um die beabsichtigte vollständige Zerstörung herbeizuführen, die den Vormarsch der Reichswehr wenigstens vorläufig gestoppt hätte.“

Abschließend beschrieb L. wie er über die Lippe gelangte und in der Bauerschaft Bossendorf auf eine Schule gefüllt mit aufgebahrten Toten aus den Kämpfen stieß. Von diesem Aufeinandertreffen mit den Opfern abgesehen, beschrieb L. den Aufstand als eine jugendliche Revolte. Für ihn als Außenstehenden waren in der Rückschau alle Aufständischen „Spartakisten“, ungeachtet der weitgehenden Zersplitterung der beteiligten linken Arbeitergruppierungen. Seine persönliche Erinnerung war nicht so sehr von Gewalttaten geprägt, deren Zeuge er nur mittelbar wurde, eher von einer gewissen Verwunderung über die Jugendlichkeit der Aufständischen und deren schnelle Bewaffnung. Daneben trat die Irritation über die Plötzlichkeit des Auftretens dieser Ausnahmesituation. Nicht zuletzt war seine Erinnerung fünfzig Jahre später von den Unannehmlichkeiten im öffentlichen Nahverkehr geprägt, die sich ganz unmittelbar auf ihn ausgewirkt hatten.

Der Aufstand wurde Anfang April durch die Reichswehr niedergeschlagen. Die Ereignisse stellen einen Teil der umfangreichen Gewalterfahrungen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg dar. Sie fügen sich, vor allem auch im Ruhrgebiet, in eine Reihe gewaltsamer Auseinandersetzungen und zunehmender gesellschaftlicher Polarisierungen zu Beginn der Weimarer Republik.

 

Literaturhinweis:
Vor Kurzem erschien als Band 2 der Reihe „Regionalgeschichte kompakt“ des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte: Pöppinghege, Rainer: Republik im Bürgerkrieg. Kapp-Putsch und Gegenbewegung an Ruhr und Lippe 1919/20, Münster 2019.