Thomas Köhler
Once in a lifetime: Auge in Auge mit Heinrich Himmler. Über den Polizisten Johann Ruf, seine fotografischen Kriegserinnerungen und den Umgang mit belasteter Familiengeschichte
Im April 1940 stand Johann Ruf „Auge in Auge“ mit seinem obersten Chef Heinrich Himmler, dem Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, als dieser in Warschau eine Ehrenparade des Münchner Polizeibataillons 72 abnahm. Der fotografisch dokumentierte Moment erschien dem Reserve-Polizisten, der von Beruf eigentlich Schreiner war, so bedeutsam, dass er sich auf dem Fotoabzug durch zwei Striche selbst markierte.
Das Foto ist Teil der Dauerausstellung „Geschichte – Gewalt – Gewissen“ in der Villa ten Hompel und soll für Besuchende ein Gesprächsanlass sein, über Rollen und Handlungsräume von Ordinary Men, den ganz normalen Männern (in Anlehnung an Christopher R. Browning) im Nationalsozialismus zu reflektieren und zu diskutieren.
Dieses Foto und mit ihm weitere Alben, aber auch zwei Schmuckstücke und zwei Operngläser, die der Polizist Johann Ruf unter ungeklärten Umständen von seinem Kriegseinsatz aus Polen als „Souvenirs“ zurück nach Hause brachte, wurden von seinem Enkel Reinhold unserem Geschichtsort als Dauerleihgabe übereignet. Aufbewahrt wurden sie in einer von Johann Ruf selbst gezimmerten roten Holzkiste. Wie und warum aber fanden sie den Weg nach Münster? In München wurde vor einigen Jahren eine Ausstellung zur Geschichte der lokalen Polizei im Nationalsozialismus gezeigt. In der Begleitpublikation entdeckte Reinhold Ruf das gleiche Fotomotiv mit Heinrich Himmler, nur ohne die zwei Striche. Jenes stammt aus einem anderen Fotoalbum im Besitz der Villa ten Hompel. So begannen der Kontakt und Austausch.
Der Tausch von Fotografien unter Polizisten war im Zweiten Weltkrieg durchaus üblich. Fotoalben aus dem „Auswärtigen Einsatz“ sind also nicht nur Erinnerungen eines Individuums, sondern zugleich eine Art kollektive Collage einer damaligen Gruppe, in der „Kameradschaft“ einer der wichtigsten Werte war. Oftmals stehen Motive dieser Kameradschaft und Inszenierungen eines hypermaskulinen „Abenteuerurlaubs“ nicht nur sprichwörtlich mit solchen von Kriegszerstörungen und Kriegsverbrechen Seite an Seite: Alltag zwischen Normalität und Verbrechen, bei dem Verbrechen mehr und mehr zum Alltag wurden.
Johann Ruf, 1909 in der Nähe von München geboren, stand in der Weimarer Republik dem sozialdemokratischen Milieu nahe. Der gelernte Schreiner wurde im September 1939 in das Polizeibataillon 72 in München für den ‚Auswärtigen Einsatz‘ im besetzten Europa eingezogen. Sein erster Einsatzort, im Dienstrang eines Wachtmeisters, war ab Dezember 1939 Częstochowa (Tschenstochau), in der Woiwodschaft Schlesien in Südpolen gelegen. Nachweisbar sind dem Bataillon dort nicht nur die Beteiligung an der Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung, sondern auch Misshandlungen und Tötungen. Von April bis September 1940 war Rufs Einheit in der Hauptstadt Warschau stationiert. Während seiner dortigen Einsatzzeit wurde die jüdische Bevölkerung zum Leben in einem einzigen Stadtbezirk auf engstem Raum gezwungen. Ab Oktober 1940 wurde dieser hermetisch abgeriegelt und war das größte jüdische Ghetto Europas.
Für Johann Ruf folgten Einsätze in Slowenien, wo er zum Oberwachtmeister befördert wurde. Dort war das Bataillon an Vertreibungs- und Vergeltungsmaßnahmen beteiligt. Im Laufe des Sommers 1942 wurden in der Stadt Celje mehrere Hundert Zivilpersonen auch von Tötungskommandos des Polizeibataillons 72 erschossen. Anfang März 1944 traf die Polizeieinheit dann in Südfrankreich ein, wo neben der Grenzsicherung zur neutralen Schweiz auch die Bekämpfung der französischen Widerstandsbewegung zum Aufgabenfeld gehörte. Rufs persönliche Rolle bei den Verbrechen des Bataillons 72 muss aufgrund der Quellenlage offenbleiben. In Charmonix geriet er im August 1944 schließlich in französische Kriegsgefangenschaft, von wo er 1947 flüchten konnte. In München kehrte er in seinen Zivilberuf als Schreiner zurück und arbeite bis zu seinem Ruhestand für die Verkehrsbetriebe München.
Die Holzkiste mit den darin aufbewahrten Artefakten als Erinnerungen an Rufs Kriegszeit weisen über 1945 hinaus in unsere Gegenwart hinein. Sie sind bis heute Teil einer in der Familie virulenten belasteten Geschichte. Reinhold Ruf durchbrach mit seinem Kontakt zur Villa ten Hompel die Tabuisierung dieser Geschichte und setzt sich aktiv für die Nutzung und Verbreitung des Quellenmaterials und der Geschichte(n) darüber ein. So wurden sie auch außerhalb von Münster in Wanderausstellungen präsentiert. Mit der Auseinandersetzung mit diesem Teil der belsteten Familiengeschichte übernimmt Reinhold Ruf eine historische Verantwortung gegenüber der noch nicht abgeschlossenen Vergangenheit.