„Auskehr des Häßlichen“, Teil 1.

09.06.2020

Eine Karteikarte im Format Din A6, nummeriert und mit einem gestempelten Kreis versehen. Zu welchem Vortrag gehört sie? (Bild: Foto-Sammlung des WHB-Bildarchivs, Archiv für Alltagskultur in Westfalen)

„Auskehr des Häßlichen“, Teil 1.

Historischer Lichtbildervortrag zur Ortsbildpflege im WHB-Bildarchiv

Dorothee Jahnke

Bis Ende 2019 war ich als studentische Volontärin in der Kommission Alltagskulturforschung beschäftigt. Zusammen mit Gitta Böth habe ich dort an der Komplettaufnahme des WHB-Bildarchivs gearbeitet. Drei Archivfunde aus unterschiedlichen Teilen dieses Bestandes ergeben zusammen einen historischen Lichtbildervortrag zur Ortsbildpflege in Westfalen.

Den Anfang machten sechzehn Karteikarten, die nicht zum Rest der Foto-Sammlung aus dem Bildarchiv des Westfälischen Heimatbundes zu passen schienen. Sie sind deutlich kleiner als die anderen Karten des Bestandes – nur Din A6 statt Din A4. Auch farblich stechen sie hervor. Was hat es damit auf sich?

Wie die meisten Bildkarten der Foto-Sammlung bestehen auch diese aus jeweils einem auf Pappe aufgeklebten Foto nebst (wenigen) Metadaten. In der linken oberen Ecke ist jedoch - abweichend von den anderen Bildkarten - eine rote Zahl aufgestempelt worden; in der rechten Ecke ein roter Kreis. Auf der Rückseite jeder Karte klebt ein schreibmaschinengeschriebener Text. Es fehlen jegliche Informationen zum Verfasser des Textes, zum Fotograf oder zur Herkunft der Karten und Fotos. Es gibt nicht einmal einen Aufdruck, der auf den WHB als ‚Besitzer‘ hinweist.

Nummerierte Bilder, erläuternde Texte – schnell lag der Verdacht nahe, dass es sich um Handkarten zu einem Vortrag handeln könnte. Immerhin verlieh der Westfälische Heimatbund zahlreiche Dia-Reihen, oft mit den nötigen Vortragstexten. Sie konnten beispielsweise von Heimatvereinen für gesellige Veranstaltungen bestellt werden.

Aber zu welchem Vortrag hatten diese Karten gehört? Handelte es sich tatsächlich nur um einen einzelnen Vortrag, oder vielleicht sogar um mehrere? Und was hat es mit den roten Kreisen auf sich? Welche Rückschlüsse erlauben die Karten?

Dia 9: Vorher-Nachher-Bilder eines Hauses. (Bild: Dia-Sammlung des WHB-Bildarchivs, Archiv für Alltagskultur in Westfalen)

Es ist offensichtlich, dass die Reihe nicht vollständig ist: Die Nummerierung geht von 4 bis 29, mit Lücken. Alle Texte stammen aus dem Kontext der Ortsbildpflege. Es ist die Rede von „Bausitte“ und „Farbsitte“, von „Verputzen“ und „Schlämmen“, von ‚guten‘ und von ‚schlechten‘ Häusern. Der Verfasser nutzt Begriffe wie „Düsterlinge“ oder „Griesgrambau“, um die ‚schlechten‘ Gebäude zu beschreiben. Eine der Karten zeigt Spuren einer Korrektur oder Selbstzensur: Im Text wurde das Wort „Reichsnährstand“ durchgestrichen und handschriftlich durch „Betriebswirt“ ersetzt. Dies bietet einen wichtigen Hinweis auf die NS-Zeit als Entstehungszeitraum. Zudem wird ein Teil der Bilder vom Verfasser überaus positiv bewertet, der Rest fast übertrieben negativ. Es gibt sogar ein Vorher-Nachher-Bild. Diese Arbeit mit Beispielen und Gegenbeispielen entspricht der Methodik von Paul Schultze-Naumburg (1869-1949). Der Architekt Schultze-Naumburg war ein Vertreter der völkischen (später: der nationalsozialistischen) Heimatbewegung und Mitbegründer des Deutschen Bundes Heimatschutz sowie des Deutschen Werkbundes. In seinen ab 1901 veröffentlichten „Kulturarbeiten“ dokumentierte er mit Fotos Beispielhaftes und Ungewünschtes, um ‚ungeschulte‘ Augen zu ‚richtigem‘ Sehen und entsprechendem Handeln zu erziehen. Als Entstehungskontext für die Handkarten kann somit die (völkische) Heimatbewegung vermutet werden.

Für die Bearbeitung der Karten im Rahmen der Komplettaufnahme reichte zunächst die knappe Beschreibung. Danach wurden sie zusammen in den Schubkasten einsortiert, aber nicht vergessen.

Einige Zeit später fiel bei der Sichtung der Dia-Sammlung des WHB-Bildarchivs eine hölzerne Versandkiste mit großen Glas-Diapositiven auf. Laut Aufschrift enthielt sie die Reihe „Auskehr des Häßlichen“ – ein Titel, der zwangsläufig das Interesse wecken musste.

Die ersten Bilder zeigten unbekannte Motive. Doch dann tauchten Fotos auf, die bereits auf den Handkarten zu sehen waren: ein baufälliges Fachwerkgebäude, ein weiß verputzter Giebel, ein Bauerngarten.

Die Dia-Sammlung enthält auch eine zweite Reihe mit der Bezeichnung „Auskehr des Häßlichen“. Tatsächlich handelte es sich bei einer der beiden Kisten um Ersatzbilder für die Hauptreihe, um defekte oder verlorene Dias schnell zu ersetzen und die Serie einsatzbereit zu halten. Die Etiketten der Kisten tragen den Zusatz „29 Bilder zur Ortsbildpflege mit Text von Prof. Wolf“. Damit war wohl der Landesbaupfleger und Architekt Gustav Wolf (1887-1963) gemeint.

Den letzten Beweis dafür, dass die Handkarten und die Dia-Reihe „Auskehr des Häßlichen“ zusammengehörten, brachte schließlich ein dritter Archivfund. Unter den unverzeichneten Vortragsskripten im WHB-Bildarchiv fand sich ein undatierter Text zum „Wander-Vortrag ‚Zur Verbesserung westfälischer Ortsbilder’. Zusammengestellt vom Landesbaupfleger der Provinz Westfalen, Professor Wolf, Münster“.

Das Skript ergibt allerdings nur dann einen Vortrag, wenn es mit den anderen ‚Zutaten‘ kombiniert wird. Es enthält lediglich Über- oder Einleitungen zu einzelnen Themengruppen, deren Nummern aufgeführt sind. Der Vortrag selbst umfasst „29 Strahlbilder in Größe 8½ x 10 und die entsprechenden Bildkarten 10½ x 15 (Din A6) in der bildseitig links oben bezeichneten Reihenfolge“ – also die bereits genannten Handkarten und Diapositive.

Im Skript wird auch die Frage beantwortet, was es mit den roten Kreisen auf sich hat: „Der Redner kann Bilder von örtlicher Bedeutung nach Belieben einfügen […] und die Reihenfolge nach seinem Bedarf ändern. Dann empfiehlt es sich, die endgültig gewählte Reihenfolge durch Eintragung von Ziffern mit Bleistift in den Ring rechts oben zu vermerken.“

Nach diesen drei interessanten Archivfunden zur „Auskehr des Häßlichen“ blieb im Wesentlichen nur eine logische Konsequenz: vertiefte Recherchen …

Fortsetzung folgt.

[Teil 2 hier]

Kategorien: Werkstattberichte · Aus der Uni

Schlagworte: Fotografie · Dorothee Jahnke