„[D]as hier verkehrende vornehme Publikum“ zeigt „eine ausgesprochen germanische Tendenz“
Kathrin Schulte
Die ostfriesische Insel Borkum ist ein beliebtes Ferienziel der Westfälinnen und Westfalen. Neben Nordseewellen, Strand und Wattwanderungen lohnt sich auch ein Blick in die Geschichte der Insel, in der es bei Weitem nicht nur um Fischerei und Thalassotherapie ging. Auf historisch unrühmliche Zeiten verweist ein schlichter Gedenkstein, der sich in der Innenstadt, direkt neben dem Bürgerbüro, befindet:
„‚Die Würde des Menschen ist unantastbar.‘ (Art. 1 GG)
Wir gedenken der Menschen, die aufgrund ihres jüdischen Glaubens bis 1939 auf Borkum Opfer von Demütigung, Gewalt und Ausgrenzung wurden.
Die Bürger der Stadt Borkum“
Ähnliche Gedenksteine befinden sich in zahlreichen deutschen Städten, zum Beispiel dort, wo Synagogen standen, ehe sie von den Nationalsozialisten und ihren Unterstützer:innen zerstört wurden. Auf Borkum erinnert der Gedenkstein an den auf der Insel sehr ausgeprägten Bäderantisemitismus.
Der deutsche Bädertourismus nach englischem Vorbild nahm im ausgehenden 18. Jahrhundert seinen Anfang. Bis zur Wende zum 20. Jahrhundert waren es vor allem der Adel und das Großbürgertum, die sich einen Aufenthalt in den mondänen Seebädern wie Heiligendamm an der Ostsee (ab 1793) oder Norderney an der Nordsee (ab 1797) leisten konnten. Für dieses Publikum ging es nicht nur ums Baden, sondern auch darum, während des Aufenthalts im Seebad einen gesellschaftlichen Status zu präsentieren und geschäftliche und familiäre Beziehungen zu knüpfen. Unter den Badegästen waren von Beginn an auch zahlreiche Jüdinnen und Juden, die dem Bürgertum größerer Städte angehörten.
Um die Wende zum 20. Jahrhundert änderte sich nicht nur die Zusammensetzung des Publikums (der ehemals exklusive Badetourismus wurde nach und nach auch für breitere Gesellschaftsschichten erschwinglich), sondern auch die Einstellung eines Teils der Badegäste gegenüber den jüdischen Gästen. Ihnen wurde vorgeworfen, sie träten „zu prunkvoll“ und damit „undeutsch“ auf. Vor allem diejenigen, die wie der preußische Adel ihren Status in Gefahr sahen, agitierten gegen das jüdische Badepublikum. Den zunehmenden Antisemitismus nutzten einige Badeorte, die sich erst spät etablieren konnten und somit mit der Ausstattung und dem Luxus der bestehenden Kurbäder nicht mithalten konnten – so auch die seit den 1880er Jahren als „deutsches Inselbad“ in Reiseführern verzeichnete Nordseeinsel Borkum. Die ostfriesische Insel Borkum stand von Beginn der Etablierung als Kurbad in Konkurrenz zum benachbarten Norderney, das Ende des 19. Jahrhunderts bereits auf eine 100jährige Tradition als Nordseeheilbad zurückblicken konnte. Norderney war ein beliebtes Ziel für ein mondänes Publikum, darunter auch wohlhabende jüdische Gäste. Letzteren boten sich auf Norderney bereits seit 1878 eine Synagoge und zahlreiche koschere Restaurants. Alles in allem sah sich Norderney als „Insel der Toleranz“, wurde von Antisemiten aber als „Judeninsel“ geschmäht. Borkum hingegen zog eine eher kleinbürgerliche Klientel an, nutzte die bestehenden Vorurteile gegen Juden und profilierte sich bereits in den 1890er Jahren als „judenfreier“ Urlaubsort. Auch bei Bädern an der Ostseeküste und Kurorten im Landesinnern ist diese Entwicklung nachzuweisen.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts kam es auf Borkum zu Beleidigungen und Verfolgungen jüdischer Gäste, teilweise auch von Personen, die lediglich für jüdisch gehalten wurden; 1897 hob ein Inselführer als besonderen Vorzug der Insel hervor, dass diese „judenrein“ sei, die „Kinder Israels“ seien von den Kurgästen „stets weggeärgert“ worden. Die Häuser zierten zunehmend antisemitische Schilder, in sämtlichen Hotels hing ein „Fahrplan zwischen Borkum und Jerusalem“ („Retourkarten werden nicht ausgegeben“), in der Zeitung fanden sich antisemitische Inserate und die Geschäfte der Insel handelten mit entsprechenden Postkarten. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang auch das „Borkum-Lied“, das das „Deutschtum“ der Insel betonte, starke völkische und antisemitische Motive aufweist und täglich von der Kurkapelle auf der Strandpromenade gespielt und von den Gästen gesungen wurde.
Obgleich die jüdische Bevölkerung mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 gesetzlich gleichgestellt war, schritten weder die Polizei noch die Behörden ein, um die diskriminierenden Schilder abhängen zu lassen oder das Spielen des Borkumliedes zu unterbinden. Sogar bei körperlichen Angriffen und tumultartigen Szenen gegen jüdische Gäste oder Personen, die sich beispielsweise gegen das Spielen des Borkum-Liedes aussprachen (oder während des Liedes nicht aufstanden), unternahm man keine Schritte, um diese zu schützen. Zwar ging die Judenfeindlichkeit vor allem von den Gästen der Insel aus (die Hoteliers und die Verwaltung vor Ort betonten stets, jüdische Gäste seien willkommen), die Wirtschaft profitierte jedoch deutlich, da der grassierende Antisemitismus ähnlich gesinnte Gäste anzog und die Besuchszahlen so stark stiegen.
Reiseführer, hier der Band „Nordseebäder“ von Meyers Reisebücher aus dem Jahr 1912, machten indirekt auf die Ausrichtung der Insel aufmerksam: „Heute ist Borkum ein Seebad ersten Ranges, das mit dem benachbarten Norderney wetteifert, von dem es sich nur insofern unterscheidet, als das hier verkehrende vornehme Publikum weniger luxuriös auftritt und eine ausgesprochen germanische Tendenz (Borkumlied!) zeigt; viele kinderreiche Familien.“
Der Verweis auf das „weniger luxuriöse“ Auftreten der Gäste spielt auf die jüdischen Gäste Norderneys an, die – so der entsprechende Artikel zu Norderney – „viel Luxus und Eleganz zur Schau tragen“. Das „weniger luxuriöse Auftreten“, die „germanische Tendenz“ und der Verweis auf das Borkumlied signalisierten potentiellen Tourist:innen, dass es sich um einen Urlaubsort handelte, in dem jüdische Gäste unerwünscht waren.
In der Weimarer Republik verschlimmerte sich vor dem Hintergrund antisemitischer Mobilisierung im gesamten Reichsgebiet auch die Situation in den Badeorten – dort wurde die politische Gesinnung der Anwohner:innen und der Gäste unter anderem durch Flaggen oder Schleifen demonstriert, Sandburgen wurden mit Hakenkreuzen und Reichs(kriegs)flaggen dekoriert und es gab regelmäßige Demonstrationen gegen jüdische Kurgäste. Auch gegen ausländische Gäste wurde gehetzt und der „deutsche“ Charakter der Seebäder betont.
Auf Borkum agitierte vor allem der lutherische Pfarrer Ludwig Münchmeyer, der seit 1920 die Pfarrstelle der von ihm als eine „der letzten festen, deutschen Bollwerke“ bezeichneten Insel besetzte, gegen jüdische Deutsche und alles das, was in seinen Augen „undeutsch“ war. Neben antisemitischen Predigten und Reden setzte er sich für ausschließlich deutsche Bezeichnungen auf Speisekarten sowie „altdeutsche“ Tänze auf Tanzabenden ein und kontrollierte persönlich diejenigen Gäste, deren „deutsche Abstammung“ er in Zweifel zog.
Die antisemitischen Ausfälle auf der Insel stießen jedoch auf zunehmend lauteren Protest, der auf politischer Ebene durch die SPD und linksliberale Kräfte organisiert wurde. So verbot die Bezirksregierung Aurich 1924 das Spielen des Borkumliedes, woraufhin aber das Amtsgericht Emden und auch das preußische Oberverwaltungsgericht das Spielverbot wieder aufhoben - das Gericht stufte zwar das Singen, nicht aber das Spielen des Borkumliedes als Störung der öffentlichen Ordnung ein. Die Melodie durfte also weiterhin gespielt werden – und das wurde sie auch. Die juristischen Auseinandersetzungen erregten reichsweit Aufmerksamkeit. Im Augst 1931 verbot dann schließlich die Polizeiverwaltung auch das öffentliche Spielen des Liedes mit Berufung auf die Notverordnung des Reichspräsidenten, die er im März 1931 zur Bekämpfung politischer Unruhen erlassen hatte.
Der „Borkumpastor“ Ludwig Münchmeyer hatte auf Druck des Landeskirchenamts in Hannover bereits 1925 sein Amt niedergelegt – er hatte nun nicht mehr nur gegen jüdische, sondern auch gegen katholische Gäste gehetzt, was die wirtschaftlichen Interessen der Nordseeinsel dann doch allzu sehr gefährdete: Nach Tumulten auf der Insel war die Zahl katholischer Gäste aus dem infrastrukturell gut angebundenen Rheinland eingebrochen und auch der Deutsche Bäderverband empfahl die Insel nicht mehr. Trotz seines Rücktritts und dem kurzzeitigen Verbot des Borkumliedes mieden jüdische, katholische und andersdenkende Gäste die Insel. Über Münchmeyers Hetzpredigten informiert seit 2014 eine Tafel am evangelisch-lutherischen Gemeindehaus der Insel.
Literatur: Frank Bajohr: „Unter Hotel ist judenfrei“. Bäder-Antisemitismus im 19. Und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2003.