„Menschen, höret die Geschichte, die erst kürzlich ist geschehn“

07.04.2020

Einband des Moritatenheftes „Wahrhafte Erzählung einer grausamen Mordtat welche Heinrich Thiele in der Nacht vom 17. auf den 18. Julius 1841 in Woltersdorf im Amte Lüchow, verübte, und dessen Hinrichtung am 20. Januar 1843.“, verlegt von Ernst Becker, Foto: LWL/Schulte.

„Menschen, höret die Geschichte, die erst kürzlich ist geschehn“

Von Bänkelsänger*innen und ihren Moritaten

Kathrin Schulte

„Und der Haifisch, der hat Zähne // Und die trägt er im Gesicht //  Und Macheath, der hat ein Messer // Doch das Messer sieht man nicht.“ Bei diesen Zeilen aus Bertold Brechts Dreigroschenoper handelt es sich um den Beginn einer der wohl berühmtesten Moritaten, die Generationen von Schüler*innen im Deutschunterricht kennenlernen. Moritat – der Begriff kann die Verwandtschaft zu  „mortem“(lat.), „mort“ (franz.) oder "Mord", also Tod, nicht leugnen.  Doch was hat und hatte es mit den Moritaten, also den Mord-Taten, auf sich?

Bei einer Moritat handelt es sich um ein Erzähllied eines Bänkelsängers oder einer Bänkelsängerin. Der Bänkelgesang geht auf die Verkäufer*innen der im 16. Jahrhundert aufkommenden „Newen Zeitungen“ zurück, illustrierte Flugblätter mit oft schreckenerregenden Mitteilungen. In Verbindung mit dem Moritatenheft und dem Moritatenschild bildete sich im beginnenden 17. Jahrhundert der Bänkelgesang heraus. Die soziale Stellung der Bänkelsänger*innen war niedrig, meist gehörten sie als Angehörige des „Fahrenden Volkes“ zu den „unehrlichen Leuten“, von denen man sich fern hielt und denen zum Beispiel das Erlernen eines Handwerks nicht gestattet war. Frühe Darstellungen zeigen sie zerlumpt und mit ihren Requisiten durch die Gegend ziehend - eine Darstellungsweise, die sie in die Nähe von Landstreichern und Bettlern rückte. Armut durch Arbeitslosigkeit oder Kriegsverletzungen waren meist Gründe, diesen Beruf zu ergreifen. So zogen beispielsweise nach dem Krieg von 1870/71 zahlreiche Kriegsversehrte als Drehorgelspieler oder Bänkelsänger umher.

Der als "letzter Bänkelsänger" bezeichnete Ernst Becker in Berlin. Er trägt die Moritaten auf dem Jakobsplatz im Garten des Stadtmuseums München vor. Foto: Fotograf*in unbekannt, zur Verfügung gestellt von Ernst Becker, 1960. Archiv für Alltagskultur.

Zum Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich allerdings die Situation: Durch Berufsvererbung bildeten sich Bänkelsängerfamilien, die es zu einem gewissen Wohlstand brachten und in Gehrock und Zylinder statt in Lumpen anzutreffen waren. Obgleich sie keineswegs als bürgerlich zu bezeichnen waren, befanden sie sich nicht mehr in akuter wirtschaftlicher Notlage. In den 1930er Jahren ging das Gewerbe der Bänkelsänger und –sängerinnen (auch Frauen übten diesen Beruf aus) stark zurück und sie waren nur noch vereinzelt auf Jahrmärkten anzutreffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte noch Ernst Becker, der sich als letzter deutscher Bänkelsänger bezeichnete, diese Tradition fort. Einige seiner Moritatenhefte befinden sich im Archiv für Alltagskultur.

Die Bänkelsänger*innen beanspruchten für sich, das Publikum durch ihre Auftritte sowohl zu informieren als auch zu unterhalten. Vor und nach den Gesangsdarbietungen verkauften sie  Moritatenhefte an das Publikum. Diese bestanden meist aus einem bedruckten Blatt, aus dem durch zweimaliges Falten ein achtseitiges Heftchen entstand. Auf der Titelseite war der oft zweizeilige Titel zu lesen, teilweise mit einem grob geschnitzten Holzschnitt dekoriert. Diese Hefte bildeten die hauptsächliche Einnahmequelle der Sänger*innen. Im Jahr 1932 wurden zum Beispiel drei Hefte für einen Groschen verkauft, Tageseinnahmen in Höhe von 30 RM waren ein gutes Geschäft (im Einkauf kosteten 1.000 Hefte 8,10 RM).

Die Liedtexte, die in den Moritatenblättern abgedruckt wurden, erhoben durchaus einen Anspruch auf Aktualität: „Menschen, höret die Geschichte / Die erst kürzlich ist geschehn, / Die ich treulich euch berichte, / Laßt uns dran ein Beispiel sehn.“ (Auszug aus „Wahrhafte Erzählung einer grausamen Mordtat welche Heinrich Thiele in der Nacht vom 17. auf den 18. Julius 1841 in Woltersdorf im Amte Lüchow, verübte, und dessen Hinrichtung am 20. Januar 1843.“, verlegt von Ernst Becker). Von aktueller und objektiver Berichterstattung kann allerdings kaum die Rede sein. Die Moritaten sollten primär ein großes Publikum anziehen, waren daher schaurig und traurig, sollten erschüttern und rühren, der Aktualitätsbezug trat zugunsten sensationslüsterner Erzählung in den Hintergrund.

Themen, die in den Moritaten behandelt wurden, waren verheerende Naturkatastrophen wie Brände oder Überschwemmungen, Schiffsunglücke wie der Untergang der Titanic, Grubenunglücke, aber auch Schilderungen von Kriegserlebnissen (meist mit Fokus auf persönliche Schicksale, oft auch Liebesgeschichten vor dem Hintergrund von Kriegen, die in der Regel tragisch endeten) und die Schilderungen von schrecklichen Morden und Rauben, bei denen der Verbrecher bzw. die Verbrecherin stets die gerechte Strafe erhielt. Oft waren die Mordberichte auf wahre Begebenheiten zurückzuführen, sozusagen eine frühe Form des „true crime“-Genres. Obgleich die meisten Geschichten tragisch endeten, gab es auch einige mit positivem Ausgang, so zum Beispiel bei der Moritat „Die Hochzeit im Totengewölbe“, bei der - ähnlich wie im Märchen - das Gute belohnt wird, wenn es mehrere Prüfungen bestanden hat.

Zwei Vertreterinnen der Bänkelsänger*innen-Familie Rosemann in Liegnitz, Schlesien (ca. 1920-40). Die Bildertafeln übernahm später der Bänkelsänger Ernst Becker. Fotograf*in unbekannt, zur Verfügung gestellt von Ernst Becker, Archiv für Alltagskultur.

Die Moritatenschilder sind ein weiteres Element, das die Bänkelsänger*innen auszeichnete. Die Schilder wurden bei Malern, die sich auf Schaubudenmalerei spezialisiert hatten, in Auftrag gegeben und kosteten in den 1890er Jahren etwa 30 Mark pro Schautafel. In den Bänkelsängerfamilien sammelten sich nach und nach zahlreiche Schilder an. So besaß die Familie Rosemann zum Beispiel ca. 60 Stück.  Die Schilder waren in mehrere Felder eingeteilt, oft befand sich der Höhepunkt der Geschichte im Mittelpunkt. Während des Gesangs wurde mit einem Stab auf das zugehörige Bild gezeigt. Die Schilder waren meist in grellen Farben gestaltet und dienten als Publikumsmagnet.

Wie das „Sänger“ in der Bezeichnung Bänkelsänger*innen verrät, spielte auch Musik eine nicht unwesentliche Rolle bei den Vorführungen. Trat ein Bänkelsängerpaar auf, sang meist die Frau, der Mann sprach die erläuternden Texte. Begleitet wurden sie zunächst durch Instrumente wie Geige, Fiedel oder Harfe, im 18. Jahrhundert setze sich die Drehorgel, auch als „Leierkasten“ bezeichnet, durch. Die Melodien waren meist Adaptionen bekannter Lieder, um dem Publikum ein Nachsingen der Texte in den Heften zu ermöglichen.

Nachdem die gedruckten Medien immer preisgünstiger geworden waren und auch noch das Radio als Informations- und Unterhaltungsmedium hinzukam, ließ das Interesse an den Bänkelsänger*innen mit ihren emotionsgeladenen Geschichten merklich nach. Sie sind nun schon seit fast hundert Jahren von den Jahrmärkten verschwunden und kaum noch jemandem aus persönlichem Erleben bekannt. 

Literatur: Kohlmann, Theodor: Bevor die Bilder laufen lernten. Die Sammlung R.A. Stemmle zu Bänkelsang und Moritat. Museum für Deutsche Volkskunde, Sonderausstellung 22, 1976.