Dörte Hein
„Aktuell ist es draußen -2 C kühl und in der Innenstadt ist der Weihnachtsmarkt auch schon fast komplett aufgebaut.“
So endet der Bericht eines 28-jährigen Studenten aus Münster über den 18. November im Jahr 2005. Dass dieser Satz nicht tagesaktuell sein kann, zeigt schon allein der Hinweis auf den Weihnachtsmarktaufbau, der bekanntlich in diesem Ausnahmejahr 2020 ausfallen wird. Der Student war einer von 5170 Menschen aus Westfalen und Lippe, die vor genau 15 Jahren einem Schreibaufruf der Volkskundlichen Kommission für Westfalen (heute Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen), ihren ganz persönlichen 18. November zu beschreiben, gefolgt sind. Sie wurden gebeten, zu beschreiben, wie sie ihren Tag verbracht und welche Gedanken, Emotionen und Ängste sie begleitet haben. Mit dem motivierenden Satz „Sie haben die Möglichkeit Geschichte zu schreiben!“ und ohne einschränkende inhaltliche Vorgaben wendete sich die Kommission in ihrem Flyer an alle Teile der Bevölkerung, um das Alltagsleben in seiner ganzen Breite zu dokumentieren. Zahlreiche Artikel in den regionalen und überregionalen Tageszeitungen sowie Beiträge im Lokalfernsehen und Hörfunk warben für die Unterstützung des Schreibaufrufes. Auf die einfache Frage hin, wie die Menschen ihren 18. November verbracht haben, wurden thematisch vielfältige Texte von Jung und Alt eingesendet, welche die Vorstellungswelt und das Selbstbild der Schreiber*innen wiedergaben und damit überaus interessante Quellen subjektiver Sichtweisen darstellen. Die so entstandene Quellensammlung wurde bereits in Ansätzen in dem Buch „‘Mein 18. November‘. Menschen schreiben Alltagsgeschichte(n)“ ausgewertet. Darin bietet eine Auswahl von 100 Berichten einen ersten Einblick in die Vielfalt der Sammlung, die darüber hinaus eine wertvolle Grundlage für viele zukünftige Forschungsfragen bilden könnte. Nicht nur Fragen nach der Strukturierung und Wahrnehmung von Zeit im Alltag können anhand des Materials untersucht werden, auch eröffnen sich daran weitere Forschungsfelder in den Bereichen der Bewusstseinsforschung und Bewusstseinsanalyse sowie auf dem Gebiet von subjektiv erlebten gesellschaftlichen Transformationsprozessen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Idee, die Erlebnisse eines Tages für wissenschaftliche Zwecke auszuwerten, war nicht neu. Vergleichbare Projekte fanden 1991 in Schweden, 1992 in Dänemark und 1998 in den Niederlanden statt, die zusammen mit dem westfälischen Schreibaufruf in vergleichenden Studien aufgegriffen werden könnten.