Bunt und vielversprechend oder ausgrenzend? Rituale wie die Schultüte zeigen gesellschaftliches Oben und Unten

05.08.2022 Peter Herschlein

Die Zwillingsschwestern Erika und Susanne aus Elkerinhausen im Sauerland teilten sich bei der Einschulung eine Schultüte. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 1995.0111.

Christiane Cantauw

Acht Schulneulinge aus Elkeringhausen (bei Winterberg) blicken dem Betrachter auf der Fotografie von 1947 entgegen. Der Lehrer ganz rechts im Bild ist noch zu sehr mit den neuen Schülerinnen und Schülern beschäftigt, als dass er sich auf die Aufnahme konzentrieren könnte. Hinter den Schulkindern sind zwei „Zaungäste“ zu sehen, die scheinbar noch nicht das richtige Alter haben, um in die Schule aufgenommen zu werden. Dass es sich bei dieser Aufnahme um ein – wenn auch nicht sonderlich professionelles – Einschulungsfoto handeln muss, darauf weisen die Schultüten hin, die die Kinder stolz im Arm halten. Zumindest in der vorderen Reihe, wo sich die Mädchen aufgestellt haben, lassen sich die Spitztüten, die auf Brusthöhe im Arm gehalten werden, gut ausmachen. Bei näherem Hinsehen fällt jedoch auf, dass die Zwillingsmädchen in der Mitte der Reihe zusammen anscheinend nur eine Tüte haben, während die Mädchen rechts und links von ihnen jeweils eine Schultüte im Arm tragen. Auf Nachfrage bestätigten die Zwillingsschwestern Susanne Henke geb. Pohl und Erika Pohl, dass sie tatsächlich nur eine Schultüte gehabt hätten. Die wirtschaftliche Lage der Vertriebenenfamilie habe es nicht erlaubt, jeder der beiden Töchter eine Schultüte zu kaufen. Wie vieles andere im Leben teilten die Zwillingsmädchen deshalb auch die Schultüte, die ohnehin nicht viel Gutes enthalten habe: Zwei Zuckerstückchen und zwei Plätzchen seien darin gewesen. Vielleicht habe die Mutter diese gebacken, aber genau wisse man das heute nicht mehr.

Das Foto zeigt einen durchaus kreativen Umgang mit gesellschaftlichem Oben und Unten, das auch durch Rituale hervorgehoben und zementiert wird. Größe und Schwere der Schultüte waren wichtige Hinweise auf die soziale und wirtschaftliche Stellung der Eltern der Schulneulinge: Wenn die Kinder ihre Schultüte kaum tragen konnten, weil diese so groß und schwer war, dann zeigte das, dass man sich nicht nur das Zuckerzeug in der Schultüte leisten konnte, sondern auch den Schuleintritt als einen wichtigen Schritt für das weitere Leben ihrer Kinder ansah. Wer der schulischen Bildung einen Wert beimaß, der nahm auch die Einschulung entsprechend wichtig. Das waren vor allem die bürgerlichen Familien in den Städten, die sich einen sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg durch Bildung erhofften. 

Auf dem Land sah man die Einschulung der Kinder nicht nur positiv, stellten diese mit zunehmendem Alter doch wichtige Arbeitskräfte dar. Daher wurde vielerorts zwischen Sommer- und Winterschule unterschieden. Die Sommerschule war zeitlich weniger anspruchsvoll, weil in den Sommermonaten – vor allem in der Erntezeit – weitaus mehr Arbeit anfiel als im Winter. In der Zeit von Michaelis bis Ostern, also in den Wintermonaten, gingen die Kinder an den Wochentagen einschließlich samstags von 8 bis 11 Uhr und montags, dienstags, donnerstags und freitags noch einmal von 13 bis 16 Uhr zur Schule.

Schultüten waren in den ländlichen Regionen Westfalens bis weit in die 1930er Jahre hinein unbekannt und auch um die Einschulung hatten sich keinerlei besondere Rituale ausgebildet. Das war in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen anders. Hier wie auch in Berlin kannte man Einschulungsrituale, zu denen auch die Schultüte gehörte, bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert.

Auch wenn man wenig Aufhebens um die Einschulung machte, so hatte sich 1947 auch im ländlich geprägten Hochsauerland herumgesprochen, dass eine Schultüte als Zeichen des Übergangs vom Kleinkind zum Schulkind am ersten Schultag wohl dazu gehörte. Hier wie andernorts war aber auch schnell bekannt, wie man die Zeichen der Wohlhabenheit und des städtischen Bürgertums optisch unterlaufen konnte: Durch immer wieder aufgehübschte Tüten für nachfolgende Geschwister oder auch durch Holzschuhe, Kohlen oder Kartoffeln in einer großen Tüte, die diese richtig schwermachten.

 

Literatur:

Christiane Cantauw: Die Schultüte. Annäherung an ein Brauchelement, in: Das erste Schuljahr – von Schultüten zum „Ernst des Lebens“?, Münster 2015, S. 68-85.

Hildegard Stratmann: Den Schuleintritt versüßen – Geschichte und Funktion der Schultüte, in: Süße Verlockung. Von Zucker, Schokolade und anderen Genüssen, hrsg. von Hermann Heidrich und Sigune Kussek, Molfsee 2007, S.147-152.

Dietmar Sauermann (Hrsg.): Mein Schulweg. Erinnerungen 1925 – 1975, Münster/New York/ München/ Berlin 2007.

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