Das gefälschte „Neujahrsgebet des Pfarrers von St. Lamberti 1883“ – eine Spurensuche

06.01.2023 Niklas Regenbrecht

Gisbert Strotdrees

Um die Jahreswende wird vielerorts ein „Neujahrsgebet des Pfarrers von St. Lamberti“ zitiert und vorgetragen. Es soll aus dem Jahr 1883 stammen und erfreut sich reger Verbreitung, nicht zuletzt über das Internet. Eine Google-Suche vor wenigen Tagen ergab mehr als 800 Treffer. Die Zeilen werden auf Homepages, in Foren und über soziale Netzwerke verbreitet, kopiert, verlinkt und geteilt. Im „analogen“ Leben werden sie nachgedruckt und auf Neujahrsempfängen rezitiert. Am 16. Januar 1997 wurde das „Neujahrsgebet“ sogar im Deutschen Bundestag vorgetragen – und zwar in dieser Version:

Herr, setze dem Überfluss Grenzen und lasse die Grenzen überflüssig werden.
Lasse die Leute kein falsches Geld machen, aber auch das Geld keine falschen Leute.
Nimm den Ehefrauen ihr letztes Wort und erinnere die Männer an ihr erstes.
Schenke unseren Freunden mehr Wahrheit und der Wahrheit mehr Freunde.
Bessere solche Beamten, Geschäfts- und Arbeitsleute, die wohl tätig, aber nicht wohltätig sind.
Gib den Regierenden ein besseres Deutsch und den Deutschen eine bessere Regierung.
Herr, sorge dafür, dass wir alle in den Himmel kommen – aber nicht sofort.

Blick auf die Lambertikirche in Münster, deren Pfarrer, Hermann Josef Kappen, fälschlicherweise als Autor des „Neujahrsgebets“ namhaft gemacht wurde. (Foto: H. Happe, um 1930, Archiv für Alltagkultur in Westfalen, Sign. 2015.00332).

Der Inhalt und die Originalität der grundlegenden rhetorischen Figur machen das angebliche „Neujahrsgebet“ zu einem nach wie vor beliebten Stück. Die Mischung aus Witz, Überraschung und Provokation, aus scheinbarer Zeitlosigkeit und Nostalgie passt offenbar gut in die Stimmung „zwischen den Jahren“. Aber woher stammt der Text?

Manche behaupten, der „Pfarrer zu St. Lamberti“ habe die Verse im Neujahrs-Gottesdienst verlesen. Andere führen einen angeblichen Neujahrsempfang 1883 an. Wieder andere glauben zu wissen, der Pfarrer habe diesen Text am ersten Tag jenes Jahres niedergeschrieben.

Das alles ist frei erfunden. Denn der Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde St. Lamberti in Münster, der 1883 Hermann Josef Kappen hieß und bisweilen auch ausdrücklich als Urheber genannt wird, hat den Text nicht verfasst. Die Spurensuche nach dem tatsächlichen Ursprung führt vielmehr ins Berlin des späten Vormärz, genauer: in die Jahreswende 1847/48 – und zu einem Text, der noch kein Gebet, sondern säkulare Prosa war und auch deutlich schärfere, vorrevolutionäre Botschaften vermittelt hat. Wer wann daraus das Plagiat des „Neujahrsgebetes“ fertigte, ist unklar. Vieles deutet darauf hin, dass es überraschend jungen Alters ist. Aber dazu später mehr.

Kappen: „Jede falsche Richtung bekämpfen“

Bleiben wir zunächst bei Hermann Josef Kappen, wie er mit vollem Namen hieß – denn ihn gab es tatsächlich: Geboren 1818 in Münster, hatte er nach dem Abitur am dortigen Gymnasium Paulinum das Studium der katholischen Theologie aufgenommen. 1841 wurde er zum Priester geweiht. Seit 1855 war er Pfarrer an der katholischen Marktkirche St. Lamberti in Münster. Er schrieb regelmäßig für das „Sonntagsblatt für katholische Christen“. Außerdem gab er ein Gebet- und Gesangbuch heraus und verfasste eine Reihe religiöser Traktate. Sie tragen Titel wie

  • „Missions-Andacht zu Ehren des heiligen Franziscus Xaverius“ (1845 veröffentlicht),
  • „Der Himmel, in sechs Fastenpredigten“ (1871) sowie
  • „Der christliche Dienstbote, oder Wegweiser, Rathgeber und Spiegel für Dienstboten, in allen Lagen des Lebens“ (1879).

Im Kulturkampf, dem gerade in Westfalen heftig ausgetragenen Konflikt zwischen preußischem Staat und katholischer Kirche, beteiligte er sich mit scharfen antiborussischen Attacken. So warf er der Regierung in Berlin vor, die Universität zu Münster „in eine kirchenfeindliche Richtung zu bringen, sie zu protestantisieren oder dem Unglauben und einer verderblichen Philosophie zu überliefern“. Mit den Waffen der Wissenschaft und des Glaubens wolle er „jede falsche Richtung bekämpfen“. Und beim Blick auf die Nachgeborenen war sich Kappen sicher: „Wir werden nicht das Gericht auf uns laden, stumme Hunde gewesen zu sein.“

Diese Haltung trug ihm 1884 den Titel eines Ehrendomkapitulars, 1891 den des päpstlichen Hausprälaten ein. Er starb am 28. Januar 1901 in Münster.

Ein handschriftlicher Nachlass hat sich nicht erhalten. Von seiner Hand gibt es auch kein Manuskript des „Neujahrsgebetes“, wie mir die Pfarrgemeinde St. Lamberti in Münster bei einer früheren Recherche für das Wochenblatt für Landwirtschaft und Landleben mitgeteilt hat.

Die Verse stammen aus dem Vormärz

Kappen war ein Mann des geschriebenen Wortes – und durchaus auch der rhetorischen Attacke. Das „Neujahrsgebet“ wäre ihm also zuzutrauen. Doch die Verse stammen nicht von ihm. Sie gehen vielmehr auf den Berliner Schriftsteller und Verleger Adolf Glaßbrenner (1810-1876) zurück. Sein Werk wird der frühen politisch-polemisch-satirischen Publizistik zugeordnet, wie sein Biograph Wilmont Haacke im Nachschlagewerk „Neue Deutsche Biographie“ schreibt. Weiter lesen wir dort:

„Nach der verlorenen Revolution von 1848 hat Glaßbrenner bei seinem Aufdecken sozialer Mißstände Schärfe durch Liebenswürdigkeit ersetzt. Volkskalender und Kinderbücher lagen ihm zuletzt näher als das Fortsetzen seiner Anklage, die er mit Satiren gegen die Institutionen Monarchie und Kirche, gegen Fürsten, Adel, Militär, Bürokratie auf der einen, gegen Papst, Priester und Mönche auf der anderen Seite, endlich gegen beider äußere Insignien wie Uniformen, Orden und Talare begonnen hatte.“

Als ich 2016 erstmals im Wochenblatt auf Glaßbrenner als Urheber der Neujahrsverse hingewiesen habe, konnte ich mich auf seine Veröffentlichung „Komischer Volkskalender“ von 1854 stützen. Die frühesten Spuren finden sich aber bereits in der Erstausgabe seines Kalenders für 1848.

Der Ursprungstext ist nicht in versähnlichen Zeilen, sondern in durchgängiger Prosa formuliert. Auch ist es kein religiöses Gebet. Denn nicht der christliche Gott als „Herr“, sondern das kommende Jahr selbst wird in einer säkularen Wunschlitanei angerufen:

„Neues Jahr 1848 sei uns gegrüßt! Bringe den Menschen die Krone des Lebens und lasse die Kronen dieses Lebens menschlich sein. Mache die Arbeiter reich und zwinge dafür die Reichen zur Arbeit. Gieb den Glücklichen mehr Erbarmen und nimm dagegen den Erbärmlichen das Glück. Setze dem Ueberfluß Grenzen und lasse die Grenzen überflüssig werden.“

Es folgen rund 70 Wunschsätze, verklammert durch die wiederholte dialektische Sprachfigur. Glaßbrenner greift darin vornehmlich politische Themen des Vormärz auf: Pressefreiheit, Aufhebung der Zensur, Glaubensfreiheit, Kritik an Adelsprivilegien, Polizeimacht, Preiswucher, steuerliche Ungerechtigkeiten, Nationalgefühl oder auch den Wunsch, dass „nicht so Viele nach der neuen Welt auswandern“.

Aus Glaßbrenners Polemik wird ein Gebet

Eine deutliche längere Fassung veröffentlichte Glaßbrenner in seinem Kalender von 1854. Erst in dieser Fassung sind sämtliche Sätze enthalten, die ein Unbekannter später zum angeblichen „Neujahrsgebet des Pfarrers von St. Lamberti“ formte – sie dürfte also seine Vorlage gewesen sein. Allerdings wurde das Original gleich in mehrfacher Hinsicht verändert:

  • Der Ursprungstext Glaßbrenners ist auf wenige Zeilen stark zusammengestrichen. Getilgt sind insbesondere die politischen Aussagen des Vormärz – auch jene, die über die Revolution von 1848 hinaus eine gewisse Zeitlosigkeit beanspruchen konnten.
  • Aus Glaßbrenners Anrede an das kommende Jahr wird eine christliche Anrufung an den göttlichen „Herrn“, aus der profanen Glosse also wird ein sakrales Gebet.
  • Der Name des Urhebers wird unterschlagen, stattdessen werden – vermutlich um die Gebetsintention zu unterstreichen – die Verse dem katholischen Geistlichen Hermann Kappen zugeschrieben. Hintergründe und der Zeitpunkt für diese Zuschreibung sind bislang nicht bekannt.

Eine überraschend junge Fälschung?

Es bleibt also am Ende die Frage: Wer hat diese Fälschung des Originals vorgenommen und dem Pfarrer von St. Lamberti im Wortsinn zugeschrieben? Wann ist das geschehen?

Die erste Frage ist wohl nicht mehr zu beantworten. Auf die zweite Frage hingegen deuten alle bislang belegbaren Spuren auf ein überraschend junges Datum hin.

Durchforstet man die beiden Datenbanken „Deutsches Zeitungsportal“ mit mehr als 16.000 erfassten Titeln sowie das Zeitungsportal NRW (zeitpunkt.nrw) mit rund 400 Zeitungen und Zeitschriften aus Nordwestdeutschland, ergibt sich dieses Bild:

  • Das Glaßbrenner-Gedicht findet sich im 19. und 20. Jahrhundert gelegentlich zur Jahreswende in regionalen und überregionalen Zeitungen abgedruckt, entweder unter ausdrücklicher Nennung des Urhebers oder versehen mit dem Zusatz „aus dem Biedermeier“.
  • Die Zuschreibung an den „Pfarrer von St. Lamberti“ hingegen ist nicht zu finden – nicht einmal in den unter „zeitpunkt.nrw“ erfassten lokalen Tageszeitungen aus Münster, die immerhin den Zeitraum bis 1949 abdecken.

Beim Blick in das digitalisierte Archiv der Westfälischen Nachrichten (WN) in Münster, das die Ausgaben seit 1946 erfasst, wird die Überraschung noch größer:

  • Hermann Kappen als in der Lokalgeschichte durchaus prominenter Pfarrer taucht in der örtlichen Berichterstattung wiederholt auf, aber über mehr als fünf Jahrzehnte nicht in Verbindung mit einem „Neujahrsgebet“.
  • Es wird in den WN zum ersten Mal am 23. Januar 1993 erwähnt.
  • Erstmals vollständig veröffentlicht wird es sogar erst am 3. Januar 1998, also mehr als 110 Jahre nach der angeblichen Niederschrift – schon diese Differenz gibt zu denken.

An jenem 3. Januar 1998 heißt es auf der Titelseite der WN: „Jetzt tauchte ein eigenwilliges Neujahrsgebet wieder auf, das er (gemeint ist Pfarrer Kappen, G.S.) zum Jahreswechsel 1882/83 gesprochen hat.“

Der ausführliche Bericht im Innenteil beschreibt unter anderem die Fundumstände, die einer unfreiwilligen Komik nicht entbehren. Denn in dem Bericht wird kein Pfarrer, keine Historikerin und kein Archiv-Mitarbeiter, sondern ein pensionierter Konditormeister aus Rheine vorgestellt. Er habe das Neujahrsgebet „zum Eintritt in das Jahr 1997“ in Umlauf gegeben. Die ursprüngliche Fassung Kappens sei „in den Akten der Lambertipfarre abgeheftet“, heißt es dort. Zwischen den Zeilen wird damit unterstellt, der Konditormeister habe es in ebendiesen Akten gefunden. Eine Abbildung des angeblichen Dokumentes fehlt in dem Bericht ebenso wie eine rückversichernde Bestätigung seitens der Pfarrgemeinde oder des Bistumsarchivs.

In die 1990er Jahre führt auch eine Abfrage in der Pressedatenbank „Genios“. Dort lässt sich das „Neujahrsgebet“ erstmals in einem Artikel der Rhein-Zeitung vom 6. Januar 1999 nachweisen, also ein Jahr nach dem oben genannten Artikel in den WN. Ältere Belege mit belastbarer Datumsangabe konnte ich bislang nicht finden (Sollte jemand eine ältere Quelle kennen, würde ich mich über einen Hinweis freuen: gisbert.strotdrees@wochenblatt.com 

Derzeit deutet alles darauf hin, dass das „Neujahrsgebet des Pfarrers von Lamberti“ – mit ebendieser Zuschreibung auf den münsterischen Geistlichen und auf das Jahr 1883 – in den 1990er-Jahre in die Welt gesetzt worden ist. So scheint es am Ende, als sei die Liste der urban legends, der frei erfundenen modernen Märchen, um ein schillerndes Stück länger geworden. In dieser Liste ist bekanntlich „dem Überfluss keine Grenzen gesetzt“.

 

Der komplette Text des Neujahrsgedichts von Adolf Glasbrenner ist hier erschienen.

 

Literatur:

Wilmont Haacke: Georg Adolf Theodor Glaßbrenner. In: Neue Deutsche Biographie, Band 6 (1964), S. 433-434.

Gisbert Strotdrees: Ein Gebet zieht seine Kreise. Hermann Kappen (1818-1901) – ein Beitrag der Artikelreihe „Westfälische Köpfe“. In: Wochenblatt für Landwirtschaft und Landleben, Folge 1 (2016), Seite 98.