Es bleibt also am Ende die Frage: Wer hat diese Fälschung des Originals vorgenommen und dem Pfarrer von St. Lamberti im Wortsinn zugeschrieben? Wann ist das geschehen?
Die erste Frage ist wohl nicht mehr zu beantworten. Auf die zweite Frage hingegen deuten alle bislang belegbaren Spuren auf ein überraschend junges Datum hin.
Durchforstet man die beiden Datenbanken „Deutsches Zeitungsportal“ mit mehr als 16.000 erfassten Titeln sowie das Zeitungsportal NRW (zeitpunkt.nrw) mit rund 400 Zeitungen und Zeitschriften aus Nordwestdeutschland, ergibt sich dieses Bild:
- Das Glaßbrenner-Gedicht findet sich im 19. und 20. Jahrhundert gelegentlich zur Jahreswende in regionalen und überregionalen Zeitungen abgedruckt, entweder unter ausdrücklicher Nennung des Urhebers oder versehen mit dem Zusatz „aus dem Biedermeier“.
- Die Zuschreibung an den „Pfarrer von St. Lamberti“ hingegen ist nicht zu finden – nicht einmal in den unter „zeitpunkt.nrw“ erfassten lokalen Tageszeitungen aus Münster, die immerhin den Zeitraum bis 1949 abdecken.
Beim Blick in das digitalisierte Archiv der Westfälischen Nachrichten (WN) in Münster, das die Ausgaben seit 1946 erfasst, wird die Überraschung noch größer:
- Hermann Kappen als in der Lokalgeschichte durchaus prominenter Pfarrer taucht in der örtlichen Berichterstattung wiederholt auf, aber über mehr als fünf Jahrzehnte nicht in Verbindung mit einem „Neujahrsgebet“.
- Es wird in den WN zum ersten Mal am 23. Januar 1993 erwähnt.
- Erstmals vollständig veröffentlicht wird es sogar erst am 3. Januar 1998, also mehr als 110 Jahre nach der angeblichen Niederschrift – schon diese Differenz gibt zu denken.
An jenem 3. Januar 1998 heißt es auf der Titelseite der WN: „Jetzt tauchte ein eigenwilliges Neujahrsgebet wieder auf, das er (gemeint ist Pfarrer Kappen, G.S.) zum Jahreswechsel 1882/83 gesprochen hat.“
Der ausführliche Bericht im Innenteil beschreibt unter anderem die Fundumstände, die einer unfreiwilligen Komik nicht entbehren. Denn in dem Bericht wird kein Pfarrer, keine Historikerin und kein Archiv-Mitarbeiter, sondern ein pensionierter Konditormeister aus Rheine vorgestellt. Er habe das Neujahrsgebet „zum Eintritt in das Jahr 1997“ in Umlauf gegeben. Die ursprüngliche Fassung Kappens sei „in den Akten der Lambertipfarre abgeheftet“, heißt es dort. Zwischen den Zeilen wird damit unterstellt, der Konditormeister habe es in ebendiesen Akten gefunden. Eine Abbildung des angeblichen Dokumentes fehlt in dem Bericht ebenso wie eine rückversichernde Bestätigung seitens der Pfarrgemeinde oder des Bistumsarchivs.
In die 1990er Jahre führt auch eine Abfrage in der Pressedatenbank „Genios“. Dort lässt sich das „Neujahrsgebet“ erstmals in einem Artikel der Rhein-Zeitung vom 6. Januar 1999 nachweisen, also ein Jahr nach dem oben genannten Artikel in den WN. Ältere Belege mit belastbarer Datumsangabe konnte ich bislang nicht finden (Sollte jemand eine ältere Quelle kennen, würde ich mich über einen Hinweis freuen: gisbert.strotdrees@wochenblatt.com
Derzeit deutet alles darauf hin, dass das „Neujahrsgebet des Pfarrers von Lamberti“ – mit ebendieser Zuschreibung auf den münsterischen Geistlichen und auf das Jahr 1883 – in den 1990er-Jahre in die Welt gesetzt worden ist. So scheint es am Ende, als sei die Liste der urban legends, der frei erfundenen modernen Märchen, um ein schillerndes Stück länger geworden. In dieser Liste ist bekanntlich „dem Überfluss keine Grenzen gesetzt“.
Der komplette Text des Neujahrsgedichts von Adolf Glasbrenner ist hier erschienen.
Literatur:
Wilmont Haacke: Georg Adolf Theodor Glaßbrenner. In: Neue Deutsche Biographie, Band 6 (1964), S. 433-434.
Gisbert Strotdrees: Ein Gebet zieht seine Kreise. Hermann Kappen (1818-1901) – ein Beitrag der Artikelreihe „Westfälische Köpfe“. In: Wochenblatt für Landwirtschaft und Landleben, Folge 1 (2016), Seite 98.