Das ist kolonial. Westfalens (un)sichtbares Erbe

21.06.2024 Marcel Brüntrup

Die Bühne bot nicht genügend Platz für die vielen Menschen, die an der Realisierung der Ausstellung mitgewirkt haben. (Foto: Cantauw)

Seit etwa zwei Jahrzehnten erfahren die Themenfelder Kolonialismus und Postkolonialismus in Deutschland eine breitere gesellschaftliche Wahrnehmung. Forschungsprojekte, Kulturveranstaltungen, (lokale) Initiativen, Medienberichte und Ausstellungen setzen sich mit Fragen kolonialer Verflechtungen, mit postkolonialen Sichtweisen oder mit der eigenen privilegierten Rolle in Geschichte und Gegenwart auseinander. In Westfalen-Lippe trägt die LWL-Kulturstiftung 2024 mit einem eigenen Themenjahr dazu bei, verschiedene Perspektiven auf die koloniale Vergangenheit und die postkoloniale Gegenwart der Region wahrnehmbar zu machen. Unter dem Titel „POWR! Postkoloniales Westfalen-Lippe“ sind 22 Kulturprojekte in der Region zusammengefasst, die zum Nachdenken über den langen Atem des Kolonialismus anregen sollen.

Ein zentraler Beitrag zum Themenjahr ist die Ausstellung „Das ist kolonial. Westfalens (un)sichtbares Erbe“, die am 13. Juni 2024 auf Zeche Zollern in Dortmund eröffnet wurde. Vorbereitet wurde die Präsentation 2023 durch eine Ausstellungswerkstatt. Hier bot sich in Form zahlreicher partizipativer Angebote ein Raum für eine individuelle Auseinandersetzung mit der Thematik.

Von einst umfangreichen Sammlungen sind nach über hundert Jahren oft nur noch wenige Relikte vorhanden; hier eine hölzerne Vogel-Skulptur aus der Sammlung eines lippischen Kapitäns. (Foto: Cantauw)

Diese Perspektive wurde auch in der aktuellen Präsentation aufgegriffen. Entlang der zentralen Fragestellung „Was hat Kolonialismus mit mir zu tun“ werden bewusst ganz persönliche Perspektiven auf die Geschichte und Gegenwart von kolonialen Verflechtungen eröffnet. In den vier Ausstellungseinheiten geht es um „Handel, Wirtschaft und Industrie“, „Forschung, Mission und Auswanderung“, „Alltags, Propaganda und Kontinuitäten“ sowie „Widerstand, Gedenken und Postkolonialismus“. Alle Sinneinheiten wurden in enger Zusammenarbeit mit zahlreichen Kooperationspartner:innen aus den Communities der Black and People of Colour (BPoC) und unter der Ägide eines wissenschaftlichen Beirats erarbeitet.

Die Ausbeutung der Ressourcen in den Kolonien sollte um die Wende zum 20. Jahrhundert die Kolonisation innen- und wirtschaftspolitisch plausibilisieren. (Foto: Cantauw)

Herausgekommen ist dabei eine Vielzahl an Geschichten und Belegen, die verdeutlichen, wie einschneidend der Kolonialismus unsere Welt verändert hat und wo und wie er bis heute nachwirkt: angefangen von Straßennamen und Denkmälern bis hin zu einem unterschiedlichen Zugang zum Weltmarkt oder zu Denkstrukturen und einer Weltordnung, die auch auf Rassismus gründen. Individuelle Schicksale, Karrieren und Überzeugungen machen  Strukturen nachvollziehbar. Sie erzählen von Leid und Unrecht ebenso wie von Gewinnstreben, Paternalismus, Grausamkeit, Menschenverachtung und Gleichgültigkeit.

Die Missionsgesellschaften beteiligten sich auf ihre Weise an der Kolonisation fremder Länder. (Foto: Cantauw)

Nicht erst beim partizipativen Ausstellungsteil im Obergeschoss zeigt sich, dass diese Ausstellung dem Museumspublikum einiges abverlangt. Hier werden Gewissheiten und Privilegien ebenso auf den Prüfstand gestellt, wie Verletzungen oder Traumata angesprochen. Vor allem Perspektiven, die im Sinne der „critical whiteness studies“ Privilegien und Alltagsrassismus benennen, mögen für manche weißen Ausstellungsbesucher:innen ungewohnt sein. In diesem Zusammenhang war es ein sinnvolles Angebot, dass bei der Eröffnung und auch im weiteren Verlauf der Ausstellung Führungen durch die Kooperationspartner der BPoC-Communities angeboten wurden und werden. Hier wird nachvollziehbar, warum „gut gemeint“ oft nicht gut ist, sondern zu tiefsitzenden Verletzungen führt(e), und dass es hilfreich ist, wenn Betroffene das ansprechen.

Positiv anzumerken ist außerdem, dass das Museum auch die Vergangenheit des Museumsstandorts nicht ausspart: So erfahren die Ausstellungsbesucher:innen, dass Emil Kirdorf, der Generaldirektor der Zeche Zollern, ein überzeugter Verfechter kolonialer Ideen war. Koloniale Bezüge weisen auch zahlreiche Ausstellungsstücke in der Dauerausstellung auf. Dass das an Ort und Stelle nun auch benannt wird, ist ein zukunftweisender Effekt der Ausstellung.

Zahlreiche Hörstationen wie hier im Eingangsbereich präsentieren einen individuellen Zugang zum Thema (Post)Kolonialismus. (Foto: Cantauw)

Viele der gut recherchierten Beispiele aus Geschichte und Gegenwart stimmen nachdenklich, weil sie Gewohntes, Gelebtes und Gelerntes kritisch hinterfragen: Kinderbücher ebenso wie Gesellschaftsspiele, wirtschaftliches Profit- und wissenschaftliches Erkenntnisstreben ebenso wie Mission, Karneval und Pfadfinderschaft. Dabei ist es der Recherche des Ausstellungsteams zu verdanken, dass auch diejenigen, die sich bereits mehr oder weniger intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt haben, noch Neues erfahren und entdecken können. Angesichts der klug ausgewählten Ausstellungsgegenstände, der zahlreichen schriftlichen Quellen, der vielen Interviews und der gelungenen künstlerischen Interventionen sei ohnehin zu mehrfachen Besuchen geraten – auch weil das ein oder andere erst einmal verarbeitet werden muss.   

Information zur Ausstellung:

Das ist kolonial. Westfalens (un)sichtbares Erbe

LWL-Museum Zeche Zollern, Dortmund

14. Juni 2024 – 26. Oktober 2025

www.zeche-zollern.lwl.org

Kategorie: Veranstaltungen

Schlagworte: Christiane Cantauw · Kolonialismus