Das Kaiserliederbuch von 1906

25.08.2020 Kathrin Schulte

Ansichtskarte "Unsere Kaiserfamilie", ca. 1908-1910; Archiv für Alltagskultur in Westfalen.

Das Kaiserliederbuch von 1906

Christiane Cantauw

Unter der Signatur L 85 findet sich in der Bibliothek der Kommission Alltagskulturforschung eine Ausgabe vom Volksliederbuch für Männerchor. Herausgegeben auf Veranlassung seiner Majestät des Deutschen Kaisers Wilhelm II, das 1906 in dem international renommierten Musikalienverlag C. F. Peters in Leipzig erschienen war und landläufig Kaiserliederbuch genannt wurde. Vorhanden ist lediglich der erste Band und von diesem die Ausgabe für Tenor I.

Das 520 Seiten starke Buch im Taschenformat (11,5 X 15 cm) ist gleich in mehrfacher Hinsicht interessant. Stempel in seinem Inneren sind Zeugnis für die „bewegte“ Geschichte des Buches. Der Stempel auf der Titelseite belegt, dass es aus der Bibliothek des P.O.W. Camp No. 63, Great Britain stammt. Ein weiterer Stempel im Buch verweist auf World’s Alliance of Y.M.C.A.‘s War Prisoners‘ Aid, 4, Great Russell Street London, W.C. 1. Bei dem Kriegsgefangenenlager dürfte es sich laut Liste aller P.O.W. Camps in Großbritannien um das Arbeitslager Balhary Estate Camp, Alyth, Perthshire, Scotland, aus den 1940er Jahren handeln. Die Gefangenenhilfe des Y.M.C.A. mit Sitz in London setzte sich unter anderem für musische Bildung und sinnvolle Beschäftigung in den Lagern ein, ließ dazu nach Kriegsende in Deutschland Bücher sammeln und nach Großbritannien bringen; darunter könnte sich auch das Kaiserliederbuch befunden haben. Dass es nach Schließung der Kriegsgefangenenlager in Großbritannien gemeinsam mit dem ebenfalls vom Y.M.C.A. angeschafften Bibliotheksbestand des Nortoncamp (P.O.W. Camp 174) nach Deutschland kam, ist möglich. 1949 wurden nämlich in Münster einige Kisten davon entdeckt; mit der Weiterverwendung des Nortoncamp-Buchbestandes war im Mai 1949 auch der Kultusminister von NRW befasst. Allerdings liegen uns darüber, wie das Kaiserliederbuch auf die britische Insel und wieder zurück nach Deutschland gelangte, keine Informationen vor. Im Bibliotheksbuch der Volkskundlichen Kommission ist lediglich eingetragen, dass das Buch – ebenso wie weitere 32 Bücher – „aus d. ehem. Kriegsgef. Bücherei (Ymca)“ stammt und dass die Bücher 1949 zum Preis von je 1 Mark erworben wurden.

Die Stempel im Innern des Kaiserliederbuches zeugen von dessen bewegter Geschichte. Foto: Cantauw/KAF.

Ebenso spannend wie die Frage nach der Herkunft unseres Bibliotheksexemplars sind Geschichte und Inhalt des Kaiserliederbuches. Die Sammlung, auf Wunsch von Kaiser Wilhelm II erstellt, umfasst insgesamt 610 Volkslieder, die von der preußischen „Staatlichen Kommission für das Volksliederbuch“ unter dem Vorsitz von Rochus Freiherr von Liliencron ausgewählt wurden; die Bearbeitung erfolgte durch namhafte Musiker, darunter Richard Strauss, Engelbert von Humperdinck und der damalige Thomaskantor Gustav Schreck. Die Volksliedkommission veröffentlichte 1906 mit dem Volksliederbuch in zwei Bänden ein recht umfangreiches, aber musikalisch nicht allzu anspruchsvolles Liedgut für Männerchöre; 1915 folgte, herausgegeben von Max Friedländer, das Volksliederbuch für gemischten Chor, erst 1930 das Volksliederbuch für die Jugend.

Der erste Band des Kaiserliederbuchs enthält 309 Lieder und ist in die Kategorien Geistliche Lieder, Ernstes und Erbauliches, Vaterland und Heimat, Natur, Wandern und Abschied, Soldatenlieder und Lieder der Jäger, Schiffer, Bauern, Bergleute etc. unterteilt. Den musikwissenschaftlichen und volksbildnerischen Anspruch des Buches unterstreicht, dass zu allen Liedern Komponist, Texter (soweit bekannt) und Bearbeiter sowie das Jahr der Aufzeichnung angegeben sind. Auch Übersetzungen aus anderen Sprachen sind angegeben und zu allen Urhebern wurden die Lebensdaten vermerkt.

Dem praktischen Umgang mit dem Kaiserliederbuch dienten Angaben, wie die einzelnen Lieder gespielt resp. vorgetragen werden sollten. Üblicherweise werden solche Angaben in italienischer Sprache gemacht. Das Kaiserliederbuch bricht vielfach mit dieser Tradition, indem diese Hinweise in deutscher Sprache gegeben werden, z. B. „Anmutig bewegt“ oder „Schlicht und zart, aber frisch im Zeitmass“. Bei „Ein feste Burg ist unser Gott“ heißt es auch „Feurig und markig“.

Wilhelm II liebte besonders den Männerchorgesang, den er beispielsweise auch mit der Initiierung von Wettbewerben zu fördern hoffte. Daher lobte er im Januar 1895 einen Wanderpreis für den besten Männerchor aus. Das erste „Kaiserpreissingen“ fand 1899 in Kassel statt; weitere Chorfeste folgten in Frankfurt a. M. in den Jahren 1903, 1909 und 1913. Sie entfalteten allerdings schnell eine Eigendynamik, indem sich die Chöre gegenseitig zu immer anspruchsvolleren Chorwerken antrieben. Das war nicht nach dem Geschmack des Kaisers, der zwar die patriotischen Texte lobte, aber musikalisch mehr Schlichtheit einforderte. Durch „sein“ Volksliederbuch, das bei den Wettbewerben 1909 und 1913 von vielen Chören genutzt wurde, hoffte er die weitere Entwicklung des Preissingens in seinem Sinne zu steuern.

Der Einband des Kaiserliederbuchs. Foto: Cantauw/KAF.

Dass dem Kaiserliederbuch auch an der Überwindung von innernationalen gesellschaftlichen Gegensätzen gelegen war, lässt sich daran ablesen, dass als erstes Lied der Sammlung ein „Katholisches Kirchenlied, 1599 (Strophe 3 Zusatz aus dem 19. Jahrhundert) abgedruckt wurde. Das Lied „Es ist ein Reis entsprungen“ (Interpretation: „Innig und zart“), 1609 von Michael Praetorius gesetzt, in einer Bearbeitung von Fritz Volbach war wohl auch bei evangelischen Christen gut bekannt. Es an den Anfang der Liedsammlung zu stellen, war angesichts des nur wenige Jahrzehnte zurückliegenden Kulturkampfes, der den Katholiken noch sehr präsent war, ein geschickter Schachzug.

Neben solcherart Überraschendem enthält das Kaiserliederbuch natürlich auch viel Erwartbares. Die Kaiserhymne „Heil dir im Siegerkranz“ (Text von Heinrich Harries, umgedichtet von Balthasar Gerhard Schumacher, Melodie „God save George the King“, komponiert von Henry Carey, dessen Autorenschaft heute angezweifelt wird, in einer Bearbeitung von Engelbert Humperdinck) durfte selbstverständlich ebenso wenig fehlen wie „Die Wacht am Rhein“ (Nr. 138). Ersteres wird im Kapitel „Vaterland und Heimat“ aufgeführt, trägt die Nummer 117 und wird bezeichnenderweise als „Volkslied“ tituliert, obwohl es sich in der Kaiserzeit zur inoffiziellen Nationalhymne entwickelt hatte.

Dass sich das Lied in seiner ursprünglichen Fassung von 1790 an Christian VII von Dänemark gewandt hatte, wusste zu Ende des 19. Jahrhunderts wohl kaum noch jemand. Da es in der Kaiserzeit bei allen nationalen Gedenktagen gesungen und gespielt wurde, erfreute es sich eines großen Bekanntheitsgrades, der allerdings auch mit Persiflagen (aus dem Lager der Sozialdemokraten) verbunden war.

Das Kaiserliederbuch enthält Lieder aus dem 15. bis 19. Jahrhundert, überwiegend in deutscher Sprache. In seltenen Fällen wurden fremdsprachige Lieder ins Deutsche übertragen. Einige wenige Liedtexte wurden in ihrer Originalsprache resp. im mundartlichen Original belassen. Bei ihnen handelt es sich ausschließlich um lateinisches, österreichisches und schweizerisches Liedgut. 

Die Liedauswahl entsprach in hohem Maße den thematischen und politischen Interessen des Kaisers. So wurden beispielsweise Lieder ausgesucht, die zur Überwindung der Kleinstaaterei oder der religiösen Gegensätze dienten oder die die Kriegsbegeisterung und den Nationalismus schürten. Auch die Marinebegeisterung des Kaisers wurde mit Liedern wie „Hinaus auf die See!“ (Komponist unbekannt, Text Karl Budde) oder „Sturmbeschwörung“ (Komponist Johannes Dürruer, Text Johannes Falk) bedient.

Sowohl unter den Komponisten als auch unter den Autoren der Texte finden sich viele bekannte Namen wie Franz Schubert, Ludwig van Beethoven, Wolfgang Amadeus Mozart, Robert Schumann, Friedrich Händel, Felix Mendelssohn-Bartholdy und Carl Maria von Weber oder Joseph Mohr, Martin Luther, Friedrich Spee, Christian Fürchtegott Gellert, Paul Gerhardt, Friedrich Gottlieb Klopstock, Ludwig Uhland, Anton Wilhelm von Zuccalmaglio, Hoffmann v. Fallersleben, Friedrich Rückert, Joseph Eichendorff und Max von Schenkendorf – um nur einige zu nennen. Sie bilden eine bürgerlich-klassische Musikkultur ab, die zur Volksbildung beitragen, sie moralisch veredeln und gegen die sogenannten Gassenhauer immunisieren sollte. Abgerundet wurde dieser Kanon durch die „Volksweisen“, deren Komponisten und Textdichter häufig nicht namhaft gemacht werden konnten. Sie waren aber allein schon durch ihre jahrhundertealte Überlieferungstradition geadelt.

Das Volksliederbuch sollte der vom Kaiser intendierten Einfachheit des Volksgesangs dienen, indem es eine gut abgewogene Mischung aus altbekanntem Liedgut und national-patriotischen Kunstliedern, allesamt mit schlichter Melodieführung und eingängigen Texten, anbot. Über die Volkslieder sollte die Kleinstaaterei durch ein Bekenntnis zu gesamtdeutscher nationaler Einheit überwunden werden. Damit bewegte man sich in der Tradition der bürgerlichen Sängerbewegung, die nach den Befreiungskriegen entstanden war und die ein wichtiger Träger des Nationalgedankens war.

Der Kaiser war sich dieses Potenzials der Sängerbewegung bewusst. Indem er das Volkslied und die bürgerlichen Männerchöre förderte, bediente er auch einen zeitgenössischen Topos, demzufolge der Sieg gegen Frankreich 1871 auch das Ergebnis der durch gemeinsamen Gesang geförderten Einigkeit gewesen war.

Kategorie: Aus unserer Sammlung

Schlagworte: Christiane Cantauw · Kaiserzeit · Lied