Das ravensbergische „Ziegenproblem“

20.09.2024 Marcel Brüntrup

Sebastian Schröder

Die Idylle trügt: Den ravensbergischen Landesherren waren an Bäumen und Büschen knabbernde Ziegen ein Dorn im Auge. (Foto: Karl Franz Klose, o.D., Eggegebirge, Archiv für Alltagskultur, Sign. 2005.03422).

In der Mathematik versteht man unter dem „Ziegenproblem“ Überlegungen zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ein „Ziegenproblem“ gab es in der Grafschaft Ravensberg bereits im 18. Jahrhundert. Allerdings standen seinerzeit keine Rechenoperationen im Fokus, sondern tatsächlich die paarhufigen Tiere, die zur Familie der Hornträger zählen. So ließ die ravensbergische Amtskammer schon im Januar 1703 ein landesherrliches Edikt veröffentlichen, das die Ziegenhaltung regulieren sollte. Die Obrigkeit verordnete darin, dass die Paarhufer lediglich in Ställen gehalten werden durften. Denn durch das Hüten der Ziegen würden „Heiden, Weiden und Wälder ruiniret und der Anwachs des jungen Holtzes und die Conservation der lebendigen Hecken […] behindert“, wie es wörtlich hieß. Alles in allem bilanzierte man, „daß durch dieses Vieh dem jungen Holtze mercklicher Schaden zugefüget wird“.

Dieser Erlass zeigte aber offenbar nicht die erhoffte Wirkung, wie Forstschreiber Grollmann gegenüber der ravensbergischen Amtskammer im Herbst 1710 erklärte. Daher schlug er vor, die Ziegen „niederzuschießen“. Clamor von dem Bussche, Landdrost der Grafschaft Ravensberg, folgte dieser Empfehlung, ließ ein Edikt verfassen und wenige Wochen später publizieren. Darin verfügte der landesherrliche Beamte: Die Ziegen sollten „als ein schädliches Vieh entweder gäntzlich abgeschaffet oder wenigstens nicht ausgetrieben, oder auf den Betretungsfall von den Forstbedienten erschossen“ werden.

Trotz dieses erneuten landesherrlichen Befehls blieb die Diskussion um die Ziegenhaltung selbst in den nachfolgenden Jahren stets virulent. Dabei erachtete man die Tiere einerseits als Schädlinge. Andererseits meldeten sich aber auch Gegenstimmen zu Wort. Beispielsweise erfährt man aus dem ravensbergischen Amt Vlotho vom Pächter Redecker im Jahr 1733, dass der hiesige Bauer Ziegen zu „seiner Gesundtheits-Pflege“ bedürfe. Die Milch der Tiere werde sehr geschätzt. Insbesondere ärmere Menschen hätten häufig keine Möglichkeit, Ziegen in eigenen Stallungen zu füttern. Sie seien deswegen dringend darauf angewiesen, ihr Vieh auf Gemeinheitsgründen zu weiden. Eine ähnliche Stellungnahme gab der Amtspächter Franz Valentin Tiemann ab, der für den sparrenbergischen Amtsdistrikt Werther verantwortlich zeichnete. Tiemann berichtete seinen Vorgesetzten bei der Mindener Kriegs- und Domänenkammer, dass am 3. Juli 1733 mehrere „geringe Heu[e]rlinge aus der Stadt Werter“ seinen Dienstsitz Deppendorf aufgesucht hätten. Die drei Männer klagten, dass das Verbot der Ziegenhaltung für sie äußerst nachteilig sei. Aufgrund ihrer finanziellen Verhältnisse könnten sie keine Kühe ihr Eigen nennen. Außerdem würden sie „wegen ihrer kräncklichen Constitution keine andere alß nur pur allein Ziegen Milch vertragen“. Zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts erweise sich folglich das Halten von Ziegen als unerlässlich, argumentierten die Heuerlinge aus Werther. Die Bittsteller schlugen deshalb vor, dass ihnen gestattet werde, ihre Huftiere in die städtischen, nicht dem Landesherrn gehörigen Gehölze zu treiben. Überzeugen ließ sich die Kriegs- und Domänenkammer allerdings nicht; in ihrem Antwortschreiben teilte sie mit, man dulde keine Ausnahmen von den landesherrlichen Bestimmungen.

Lediglich in Ställen gestatteten die Preußen die Ziegenhaltung. (Foto: Helmut Orwat, 1971, Castrop-Rauxel, Archiv für Alltagskultur, Sign. 2013.19007).

Gleichwohl hielten sich auch in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten nicht alle Untertanen an diese Verordnungen. Aus dem Amt Limberg erfährt man 1743 vom Fall des Dienstknechts Braun. Seinem Vater, dem Kaufmann Braun, hatte der Holzförster des Amtes mehrere Ziegen abgenommen und im Pfandstall in der Ortschaft Engershausen arrestiert. Braun junior habe daraufhin widerrechtlich eine Wand der Stallung aufgebrochen, um die Tiere seines Vaters eigenmächtig wiederzuerlangen. Braun war kein Einzelfall: Insgesamt hätten sich damals fünf Ziegen in der Stadt (Preußisch) Oldendorf gefunden, die gemeinsam mit der Schweineherde der Bürgerschaft gehütet werden würden. Holzförster Gottschalck beklagte große Schäden an den Bäumen. Bemerkenswert ist, dass die fünf Ziegen aus (Preußisch) Oldendorf keineswegs ausschließlich ärmeren Personenkreisen zugeordnet werden können. Neben dem schon genannten Kaufmann Braun wird nämlich ebenso der örtliche Pfarrer Hoffbauer erwähnt. Außerdem verfügten zwei jüdische Einwohner über Ziegen, wobei keinerlei Angaben zu deren sozialen, gesellschaftlichen und finanziellen Situation gemacht wird. Zum Vergleich: Ein gutes Jahrzehnt hernach (1755) listete der Holzförster des Amtes Limberg im gesamten Verwaltungsbezirk 41 Ziegen und 21 Ziegenlämmer, wobei der Schwerpunkt eindeutig in der Vogtei Bünde lag. Viele Eigentümer würden ihre Tiere im Winter tatsächlich ausschließlich in Ställen halten, im Sommer dagegen liefen sie frei herum. Im Kirchspiel Börninghausen durften einige besitzlose Personen ihre Ziegen in den Gärten beziehungsweise auf den Flachsfeldern der Bauern hüten; offenbar hatte es entsprechende Absprachen zwischen ihnen gegeben.

Für die Behörden stand ungeachtet aller anderslautenden Meinungen fest: Ziegen gehörten zu den „schädlichen“ und demzufolge zu bekämpfenden Tieren. Ihr Bestand müsse massiv eingedämmt beziehungsweise die Haltung strengen Regularien unterworfen werden. Insbesondere wurden die Paarhufer als verantwortlich für den Verderb von Gehölzen und den Verbiss junger Triebe gemacht. Den Schutz von Wäldern und Bäumen stufte die Obrigkeit höher ein als die von den Untertanen vorgetragenen Interessen an der Ziegenhaltung und -beweidung. Etwa galt die Ziegenmilch als besser verträglich und als geeignete Krankendiät. Hinzu kommt, dass vor allem ärmere Bevölkerungsgruppen häufig keine Kühe unterhalten konnten und sich deshalb quasi notgedrungen Ziegen anschafften.

Das „Ziegenproblem“ in der frühneuzeitlichen Grafschaft Ravensberg bestand folglich darin, dass die individuelle Nutzung und die landesherrliche Erhaltung der natürlichen Ressourcen aufeinanderprallten. Die Ziege als „Kuh des kleinen Mannes“ und die landesherrliche Forstwirtschaft ließen sich auf begrenztem Raum nicht miteinander versöhnen, wobei die Landesherren hier selbstverständlich am längeren Hebel saßen und gesetzlich gegen die Ziegenhaltung vorgehen konnten. Eine Lösung stellte diese Maßnahme allerdings nicht dar, war durch das Verbot doch die Subsistenz einiger Untertanen gefährdet. Trotz aller Erlasse blieben Ziegen in der Grafschaft Ravensberg letztlich beheimatet, denn die Tiere galten nicht grundsätzlich als Schädlinge. Hier zeigte sich unter anderem auch, dass die Kategorien „schädlich“ und „nützlich“ kulturell geprägt waren und in unterschiedlichen Zusammenhängen und von unterschiedlichen Personen entsprechend verschieden bewertet wurden.

Quelle:

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 396: Hütung der Ziegen, 1703–1808.

Die bisherigen Teile der Serie zur Kriegs- und Domänenkammer Minden:

Ein Dickicht voller Alltagskultur: Die preußischen Kriegs- und Domänenkammern in Westfalen im 18. Jahrhundert

Die Preußen wollen umsatteln: Zugochsen statt Pferde lautete die Devise

Erfindergeist in Minden und Ravensberg

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