„Das Reisen ist des Kellners Lust.“ Ein Liederbuch für deutsche Gastwirts-Gehilfen von 1905

17.09.2021 Dorothee Jahnke

Liederbuch für deutsche Gastwirts-Gehilfen, hrsg. von Franz Günther und C. Kyffhausen, 4. Aufl., Leipzig 1905 (Blühers Sammel-Ausgabe von Gasthaus- und Küchen-Werken, Bd. 19), Bibliothek der Kommission Alltagskulturforschung, Sign. L174, Fotos: Christiane Cantauw, Kommission Alltagskulturforschung.

Christiane Cantauw

 

Unter der Signatur L 174 findet sich in der Bibliothek der Kommission Alltagskulturforschung ein äußerlich recht unscheinbares Büchlein. Der braune Einband und die nicht mehr lesbare Schrift auf dem Buchrücken haben in der Vergangenheit wohl dazu geführt, dass die nur 16 Zentimeter hohe Veröffentlichung wenig Beachtung fand. Wer das schmale Bändchen herauszieht, staunt allerdings nicht schlecht. Es handelt sich um die von Franz Günther und C. Kyffhausen herausgegebene vierte Auflage des „Liederbuch(s) für deutsche Gastwirts-Gehilfen“, die 1905 in P. M. Blühers Verlag in Leipzig erschien. Hinter dem Künstlernamen C. Kyffhausen verbarg sich der Berliner Hotelier und Schriftsteller Carl Kohlis, der als „Weinpoet“ mit Gedichten rund um die Rebe die Reichshauptstadt zum Wein bekehren wollte.   
Die erste Auflage des Liederbuchs, das als 19. Band in der Gasthaus-Literatur-Reihe „Blühers Sammel-Ausgabe von Gasthaus- und Küchen-Werken“ erschien, wurde von Franz Günther zusammengestellt und datiert auf das Jahr 1887. Unter dem Titel „Kommers-Liederbuch deutscher Gastwirts-Gehilfen“ fand es – so die Herausgeber der Neuauflagen – „weit über die Grenzen des deutschen Vaterlandes“ hinaus eine „überaus freundliche Aufnahme“ (S. 5). Dennoch wurde es gründlich überarbeitet, „minderwertiges“ (S. 5), nämlich insgesamt 62 Lieder, wurden entfernt, 121 kamen neu hinzu. Zwischen Emil Petermanns „Handbuch der Mehlspeisen“ und Heinrich Louis Fritzsches „Illustriertem Servietten-Album“ angeboten, bewarb der Verlag 1899 sein Produkt als „einzig in seiner Art“ und „sehr beliebt“ für „1,10 (Ausland 1,20) Mk. In Partien (für Vereine) billiger.“ 
Das Liederbuch verdankt sich – so das Vorwort zur ersten Auflage – einer Initiative des „Dilettanten“ Franz Günther, die der Vorstand des „Fecht-Verein[s] der Berliner Kellnerschaft“ (S. 3) im Juni 1887 gern unterstützte. Anders als man vielleicht meinen könnte, ging es in diesem Verein nicht um Kampfsport. Bis über die Wende zum 20. Jahrhundert hinaus bezeichnete „Fechten“ auch das Sammeln von Geld für soziale Zwecke, die von Haus zu Haus gehend vorgetragene Bitte um eine freiwillige Spende, mancherorts auch als „Heischen“ bezeichnet. Aus dem altdeutschen „Bechten gehen“, was so viel heißt wie „von Tür zu Tür gehen, um dort eine Gabe zu sammeln“, entwickelte sich das Wort „fechten“ und diejenigen, die das machten, hießen „Fechtbrüder“. 
In vereinsmäßige Bahnen wurde das Fechten erstmals 1880 gelenkt. Die am 13. Oktober des Jahres gegründete Deutsche Reichs-Fechtschule mit Sitz in Magdeburg war ein über ganz Deutschland verbreiteter Verein zur Sammlung von Spendengeldern, die für die Errichtung und Unterhaltung von Waisenhäusern gedacht waren. Tatsächlich wurden auf Initiative des Vereins zwischen 1885 und 1905 Reichswaisenhäuser in Lahr, Magdeburg, Schwabach bei Nürnberg, Salzwedel und Niederbreisig am Rhein errichtet. Auch dem von 1886 bis 1890 bestehenden Fecht-Verein der Berliner Kellnerschaft ging es um Wohltätigkeit. Sie war allerdings zur Unterstützung hilfsbedürftiger Fachgenossen gedacht. 
Bei den Zusammenkünften der Fecht-Vereine, die sich um die Jahrhundertwende vielerorts im Deutschen Reich gründeten, ging es natürlich nicht nur um Wohltätigkeit. Eine wichtige Rolle spielte auch die (feucht-fröhliche) Geselligkeit. Auf den vom Fecht-Verein der Berliner Kellnerschaft arrangierten Kommersen hatte es sich allerdings als hinderlich herausgestellt, dass man gern zusammen ein Lied gesungen hätte, aber die Mehrzahl der Versammelten „mit der Literatur unserer Volkslieder sehr wenig vertraut“ (S. 3) war. Auch gab es wohl eine Anzahl von Liedtexten aus der Feder von Kellnern, die auf bekannte Melodien gedichtet worden waren und bei Kommersen großen Anklang gefunden hatten. Diese wollte man einem breiteren Publikum zur Kenntnis bringen und bewahren. Die Initiative zur Erstellung eines Liederbuches fiel daher auf fruchtbaren Boden und das von Franz Günther herausgegebene Büchlein war laut Vorwort schnell vergriffen. Der Verkaufserfolg führte zu weiteren Auflagen; mit P. M. Blüher Leipzig war der Verlag auf den Plan gerufen, der auf sogenannte Gasthaus-Literatur spezialisiert war. Der Verlagsinhaber Dr. [med.] Paul Martin Bühler war ein Mann vom Fach, ein anerkannter Fachschriftsteller für Gasthauswesen und Kochkunst, der bereits 1878 neben seiner Gasthaus-Buchhandlung und der Zeitschrift „Hotel-Revue“ den Deutschen Kellnerbund (Union Ganymed) gegründet hatte.

Verlagsanzeige aus: Blüher, Paul Martin: Blühers Rechtschreibung der Speisen und Getränke. Alphabetisches Fachlexikon. Französisch-Deutsch-English (und andere Sprachen) [...] Dictionnaire des Termes Culinaires. Dictionary of Culinary Terms. 2. Auflage, Leipzig 1899 (Blühers Sammel-Ausgabe von Gasthaus- und Küchen-Werken, Band 26, Hilfsbuch zum Meisterwerk der Speisen und Getränke).

Die überarbeitete Liedersammlung wurde um eine größere Auswahl an Volksliedern und eine Auswahl an „Prologen zu Stiftungs-Festen, Banner-Weihen, Weihnachts- und anderen Festen, Trinksprüchen“ sowie ein Register erweitert. Die vierte Auflage des Liederbuches enthält 235 Lieder und 34 Prologe. Auf die Notenschriften wurde verzichtet, die Komponisten sind – soweit bekannt – genannt. Im Gegensatz zur ersten Auflage werden auch alle Autoren der Liedtexte namentlich aufgeführt. Handelte es sich um „Kollegen“ (also Kellner), sind ihre Namen in Kursivschrift wiedergegeben, andernfalls in Fettschrift. 
Die 235 Lieder sind in die Rubriken Religiöse und ernste Lieder, Vaterlands-Lieder, Fach-Lieder, Volks-Lieder, Trink-Lieder und Humoristische Lieder unterteilt. Zum inhaltlichen Spektrum heißt es unter der Überschrift „Zur Ausführung“ am Ende des Buches:

„Gerstensaft und Rebenblut,
‚Harung‘, Pickles und Sardellen – 
Da es Wasser doch nicht tut – 
Mußten sich als Stoffe stellen.
Liebe, Kater, Leberwurst
Grüßen uns in bunten Reihen,
Dem berühmten deutschen Durst
‚Feuchte‘ Dichter Hymnen weihen.“ (S. 267)  

Neben national-stolzem und romantischem Liedgut („Die Wacht am Rhein“, „Lied der Deutschen“, „Der Lindenbaum“ oder „Das ganze Herz dem Vaterlande“) sind in dem Liederbuch Trinklieder und sogar Weihnachtslieder (Nr. 135, „Der Tannenbaum“) vertreten. So weit, so erwartbar. Spannend wird es, wenn man sich die von den Kellnern selbst gedichteten Texte ansieht. Dort erfährt man einiges aus dem Alltagsleben dieses Berufsstandes. Thematisiert werden neben anderem die vielfach harte Lehrzeit mit überlangen Arbeitstagen, einer enormen körperlichen Belastung und schlechter Bezahlung (Nr. 81, Kellner-Los: „... Kellner ist ein grausam Los – Der Herr Wirt verspeist den Braten - Und der Kellner riecht ihn bloß!“), die fehlende Absicherung im Alter (Nr. 51, Mahnung zur Sparsamkeit: „... Brüder, laßt uns sparsam sein – weil die Kräfte reichen – Stellt sich dann das Unglück ein – und die Wangen bleichen – können wir mit Gottvertrau‘n – dem Geschick ins Auge schaun – dem nicht auszuweichen.“), die Hierarchie der Kellner untereinander (Nr. 54, Standes-Dünkel) und ihre einseitige Ernährung (Nr. 55, „Rinder-Busen“-Weise). Einige Lieder in dieser Rubrik sind aber auch der überörtlichen Flexibilität der Kellner gewidmet, die in anderen Städten und Ländern eine Anstellung finden und Erfahrungen sammeln können: „Zieht's heimwärts dann den Wandersmann – nach Jahren – kehrt er ins Vaterland zurück – gar kenntnisreich mit off‘nem Blick – vom Reisen.“ (Nr. 53, „Kellners Reiselust“)  
Über allem aber steht das Bemühen um Eintracht, Korps-Geist und ein Standesbewusstsein, das interne Hierarchien überwindet:

„Diene, anspruchsloser Strauß,
redlich unsren Freundschafts-Zwecken!
Streue Eintrachts-Blüten aus,
Bruder-Liebe zu erwecken!
Daß dein Duft die Losung bringt,
Wenn die Weisen froh ertönen,
Wo die deutsche Zunge klingt:
Einen, Brüder, und versöhnen!!“ (Zur Einführung, S. 10)

Dass es bei der Zusammenstellung des Buches manches Mal an der ein oder anderen Stelle „knirschte“, kommt hier und dort zwischen den Zeilen zum Ausdruck. Mehr als alle Rufe zur Einheit und Versöhnung mag vielleicht ein gemeinsamer Gegner zur Überwindung interner Streitigkeiten beigetragen haben. Diesen suchte und fand die Kellnerschaft im Gastwirt resp. Prinzipal, der sich auf Kosten der Kellner bereicherte:

„Der Kellner lebt in Saus und Braus
In Deutschlands Kapitale!
Insonderheit beim Mittags-Schmaus
Als Gast beim Prinzipale.
Stets ‚frisches‘ Fleisch kommt auf den Tisch,
Kartoffeln und auch Sose;
:,: Silvester gibt‘s auch einmal Fisch.
Zwar Köpfe nur, doch große. :,:“   (Nr. 55, „Rinder-Busen“-Weise)