Christiane Cantauw
Unter der Signatur L 174 findet sich in der Bibliothek der Kommission Alltagskulturforschung ein äußerlich recht unscheinbares Büchlein. Der braune Einband und die nicht mehr lesbare Schrift auf dem Buchrücken haben in der Vergangenheit wohl dazu geführt, dass die nur 16 Zentimeter hohe Veröffentlichung wenig Beachtung fand. Wer das schmale Bändchen herauszieht, staunt allerdings nicht schlecht. Es handelt sich um die von Franz Günther und C. Kyffhausen herausgegebene vierte Auflage des „Liederbuch(s) für deutsche Gastwirts-Gehilfen“, die 1905 in P. M. Blühers Verlag in Leipzig erschien. Hinter dem Künstlernamen C. Kyffhausen verbarg sich der Berliner Hotelier und Schriftsteller Carl Kohlis, der als „Weinpoet“ mit Gedichten rund um die Rebe die Reichshauptstadt zum Wein bekehren wollte.
Die erste Auflage des Liederbuchs, das als 19. Band in der Gasthaus-Literatur-Reihe „Blühers Sammel-Ausgabe von Gasthaus- und Küchen-Werken“ erschien, wurde von Franz Günther zusammengestellt und datiert auf das Jahr 1887. Unter dem Titel „Kommers-Liederbuch deutscher Gastwirts-Gehilfen“ fand es – so die Herausgeber der Neuauflagen – „weit über die Grenzen des deutschen Vaterlandes“ hinaus eine „überaus freundliche Aufnahme“ (S. 5). Dennoch wurde es gründlich überarbeitet, „minderwertiges“ (S. 5), nämlich insgesamt 62 Lieder, wurden entfernt, 121 kamen neu hinzu. Zwischen Emil Petermanns „Handbuch der Mehlspeisen“ und Heinrich Louis Fritzsches „Illustriertem Servietten-Album“ angeboten, bewarb der Verlag 1899 sein Produkt als „einzig in seiner Art“ und „sehr beliebt“ für „1,10 (Ausland 1,20) Mk. In Partien (für Vereine) billiger.“
Das Liederbuch verdankt sich – so das Vorwort zur ersten Auflage – einer Initiative des „Dilettanten“ Franz Günther, die der Vorstand des „Fecht-Verein[s] der Berliner Kellnerschaft“ (S. 3) im Juni 1887 gern unterstützte. Anders als man vielleicht meinen könnte, ging es in diesem Verein nicht um Kampfsport. Bis über die Wende zum 20. Jahrhundert hinaus bezeichnete „Fechten“ auch das Sammeln von Geld für soziale Zwecke, die von Haus zu Haus gehend vorgetragene Bitte um eine freiwillige Spende, mancherorts auch als „Heischen“ bezeichnet. Aus dem altdeutschen „Bechten gehen“, was so viel heißt wie „von Tür zu Tür gehen, um dort eine Gabe zu sammeln“, entwickelte sich das Wort „fechten“ und diejenigen, die das machten, hießen „Fechtbrüder“.
In vereinsmäßige Bahnen wurde das Fechten erstmals 1880 gelenkt. Die am 13. Oktober des Jahres gegründete Deutsche Reichs-Fechtschule mit Sitz in Magdeburg war ein über ganz Deutschland verbreiteter Verein zur Sammlung von Spendengeldern, die für die Errichtung und Unterhaltung von Waisenhäusern gedacht waren. Tatsächlich wurden auf Initiative des Vereins zwischen 1885 und 1905 Reichswaisenhäuser in Lahr, Magdeburg, Schwabach bei Nürnberg, Salzwedel und Niederbreisig am Rhein errichtet. Auch dem von 1886 bis 1890 bestehenden Fecht-Verein der Berliner Kellnerschaft ging es um Wohltätigkeit. Sie war allerdings zur Unterstützung hilfsbedürftiger Fachgenossen gedacht.
Bei den Zusammenkünften der Fecht-Vereine, die sich um die Jahrhundertwende vielerorts im Deutschen Reich gründeten, ging es natürlich nicht nur um Wohltätigkeit. Eine wichtige Rolle spielte auch die (feucht-fröhliche) Geselligkeit. Auf den vom Fecht-Verein der Berliner Kellnerschaft arrangierten Kommersen hatte es sich allerdings als hinderlich herausgestellt, dass man gern zusammen ein Lied gesungen hätte, aber die Mehrzahl der Versammelten „mit der Literatur unserer Volkslieder sehr wenig vertraut“ (S. 3) war. Auch gab es wohl eine Anzahl von Liedtexten aus der Feder von Kellnern, die auf bekannte Melodien gedichtet worden waren und bei Kommersen großen Anklang gefunden hatten. Diese wollte man einem breiteren Publikum zur Kenntnis bringen und bewahren. Die Initiative zur Erstellung eines Liederbuches fiel daher auf fruchtbaren Boden und das von Franz Günther herausgegebene Büchlein war laut Vorwort schnell vergriffen. Der Verkaufserfolg führte zu weiteren Auflagen; mit P. M. Blüher Leipzig war der Verlag auf den Plan gerufen, der auf sogenannte Gasthaus-Literatur spezialisiert war. Der Verlagsinhaber Dr. [med.] Paul Martin Bühler war ein Mann vom Fach, ein anerkannter Fachschriftsteller für Gasthauswesen und Kochkunst, der bereits 1878 neben seiner Gasthaus-Buchhandlung und der Zeitschrift „Hotel-Revue“ den Deutschen Kellnerbund (Union Ganymed) gegründet hatte.