Timo Luks
Die 1955 von der Volkskundlichen Kommission für Westfalen ausgegebene Frageliste 18 („Knechte und Mägde“) bringt ein Interesse an Namen und Bezeichnungen zum Ausdruck, das für die Volkskunde lange Zeit kennzeichnend war. Wie Menschen sich selbst, ihre Nachbarn und Fremde, wie sie Tiere, übernatürliche Erscheinungen und mythische Figuren (be-)nannten, darin - dieser Überzeugung war die Volkskunde lange Zeit - stecke ein volkstümliches Wissen, das weit in die Vergangenheit zurückweise.
Im Fall der „Knechte und Mägde“ ging es bei der Benennungs- und Anredepraxis zwar auch allgemein um ältere sprachliche Gewohnheiten und Umfangsformen offenkundig war aber allen – Fragenden wie Befragten – klar, dass mit bestimmten Bezeichnungen abwertende oder herabwürdigende Konnotationen verbunden sein konnten, dass sie Hierarchien oder rechtliche Vorstellungen spiegelten, die den sozialen Gegebenheiten nicht mehr entsprachen.
Das Interesse der Volkskunde resultierte aus dem Charakter des Gesindebegriffs. Einerseits handelte es sich um einen rechtlich kodifizierten und damit in gewisser Weise ‚gelehrten‘ Begriff. Andererseits, und das war volkskundlich vor allem interessant, stellte sich die Frage, inwieweit ein rechtswissenschaftlich-gelehrter Begriff Relevanz im alltäglichen Sprachgebrauch hatte und ob es sich dabei vielleicht sogar um ein „Rechtsalterthum“ oder „Sprachdenkmal“ handelte, denen sich Volkskunde (und Germanistik) seit den 1840er Jahren programmatisch widmeten.
Es fällt auf, dass in den zu Frageliste 18 eingegangenen Berichten die Verwendung des Gesindebegriffs zumeist verneint wurde. „Das Wort Gesinde“, so ein Beispiel aus Weiberg vom Juli 1958, „wurde hier nicht gebraucht[.] Sie wurden alle mit Vornamen angeredet. Hier wurde gesagt das sind unsere Hilfskräfte.“ (MS01312) Die persönliche Anrede der Knechte und Mägde mit Vornamen ist ebenso charakteristisch für die Berichte wie der Verweis auf alternative Bezeichnungen. „Der Name Gesinde“, so ein Hagener Bericht vom August 1958, „wurde hier nicht gebraucht, sondern man sagte hier Dienstvolk (Denstvolk). Auf den Bauernhöfen unserer Gemeinde war auch dieser Name nicht eingebürgert. Da heißt es einfach Knecht un Maht, denn mehr wie ein Knecht und eine Magd waren auf keinem Hofe der hiesigen Gegend. Der Knecht wurde allerdings auch Buimester genannt und die Magd einfach Denstmaht.“ (MS01327) Oder: „Man sagte ‚Leute‘ oder plattdeutsch ‚Lüe‘.“ (MS06119)
Der Nicht-Gebrauch erstreckte sich nicht nur auf den Gesindebegriff. Auch „des Ausdrucks Knecht oder Magd“ bediente man sich angeblich seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr. „Man suchte nach anderen Bezeichnungen: Gespannführer, Verwalter, Viehpfleger, Eleve, Viehwärter, Landwirtschaftsgehilfe.“ „Die Ausdrücke: Knechte, Mägde sowie Gesinde, Dienstboten“ seien heutzutage nicht zuletzt deshalb „verpönt“, weil sie nicht mehr so recht in ein Zeitalter passten, das „die Freiheit des Menschen hoch bewertet“ (MS01823).
Zwei Punkte sind an den Berichten auffällig: erstens ein gewisses Fremdeln gegenüber abstrakten, also nicht auf konkrete Personen bezogenen Sammelbezeichnungen für soziale oder berufliche Gruppen („Das Wort Gesinde oder Personal wurde nicht gebraucht“, MS06156); zweitens ein performativer Widerspruch. Damit bezeichnet die Sprechakttheorie eine Diskrepanz zwischen dem Inhalt beziehungsweise der Bedeutung einer Aussage und der Art beziehungsweise den Umständen der Äußerung. Konkret: Während glaubhaft versichert wurde, dass bestimmte Begriffe nicht, nicht mehr oder nie wirklich in Gebrauch waren, verwendeten die Berichte die fraglichen Bezeichnungen durchweg – und eben nicht jene, die stattdessen angeblich in Gebrauch waren.
Einige der Gewährspersonen, das als abschließende Beobachtung, ließen es sich nicht nehmen, die Frage der Bezeichnung mit sprachgeschichtlichen Exkursen zu beantworten. In gewisser Weise bewegten sie sich damit in den Bahnen Jacob Grimms und bekräftigten so die Langlebigkeit einer Wissensformation, die im frühen und mittleren 19. Jahrhundert entstanden war, konkret: die miteinander verwobene und wechselseitig aufeinander verweisende Entstehung von Germanistik und Volkskunde. So hieß es beispielsweise: „Ursprünglich bedeutete Knecht soviel wie Knabe, Bursche, Knappe, Jüngling. Magd soviel wie Jungfrau, unfreies Mädchen, Dienerin. Gesinde soviel wie Kriegsgefolgschaft, Gefährten, Fahrtgenosse.“ (MS01823) Diese Bestimmung entsprach im Wesentlichen dem, was Grimms Deutsches Wörterbuch – der entsprechende Band war 1895 erschienen – an Belegen zusammengetragen hatte: weggenosse, gefolgsmann, reisegefährte, gefolgsmann eines fürsten auf kriegsfahrten und reisen, kriegsleute, truppen, heergefolge, heerschar, kriegsvolk; dann in bereits verallgemeinertem Gebrauch hausgenosse diener, knecht, dienstbote, gefolgschaft im allgemeinen, begleiter, anhänger. Der Begriff des Gesindes, so das Wörterbuch weiter, bezeichne auch „die hausgenossenschaft überhaupt, die insassen eines hauses“, also „die dienstboten des hauses und hofes, knechte und mägde“ – und präzisierte: „jetzt auf dem lande mehr als in der stadt gebräuchlich“ (Deutsches Wörterbuch, Bd. 5 1895).
Literatur:
Flüchter, Antje / Hofer, Sibylle / Klußmann Jan: Art. Gesinde, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger u. a., Stuttgart 2005; URL: http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_273123.
Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Band 5, 1895 [digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities: https://www.woerterbuchnetz.de/DWB, abgerufen am 08.02.2024).
König, Gudrun M. / Timm, Elisabeth: „Deutsche“ Dinge. Der Germanist Otto Lauffer zwischen Altertums- und Volkskunde, in: Schriftlose Vergangenheiten, hg. von Lisa Regazzoni. Berlin/Boston 2019. S. 157–192.