Der Kolon und das Klavier – oder: Die Pole-Position des Hofes Overmeyer in Holzhausen

22.01.2021 Dorothee Jahnke

Der Hof Overmeyer in Holzhausen, Preußisch Oldendorf. Foto: Sebastian Schröder.

Sebastian Schröder

 

Im Norden der einstigen Grafschaft Ravensberg liegt das Kirchspiel (Bad) Holzhausen (heute Teil der Stadt Preußisch Oldendorf), in das die Bauerschaften Holzhausen und Heddinghausen sowie Knöttinghausen eingepfarrt sind. Die Kirche entstand im Hochmittelalter auf den Gründen des nur wenige Meter entfernt gelegenen Holzhauser Meierhofes. Lateinkundige mittelalterliche Zeitgenossen sprachen von einer „curia“. Diese war Teil einer sogenannten „Villikation“. Dabei handelt es sich um System zur Organisation grundherrlichen Besitzes. Man könnte auch von einem „Hofesverband“ sprechen. Denn zu einer Villikation gehörte meistens nicht nur der Haupthof („curia“), sondern auch von diesem abhängige Bauernstellen („Hufen“). Die Hufen besetzte der Grundherr – in Holzhausen war es der Mindener Bischof – mit eigenbehörigen, also unfreien Personen, die allerdings ihre Stätte vererben konnten. Diese Bauern mussten im Gegenzug gewisse Abgaben und Dienstleistungen entrichten. Der Grundherr zog diese Verpflichtungen nicht selbst ein. Vielmehr bestellte er einen Verwalter („villicus“) zur Verrichtung dieser Aufgabe. Dieser lebte auf dem Haupt- oder Meierhof und ließ die curia zugleich bewirtschaften. Der villicus war im Gegensatz zu den abhängigen Hufenbauern persönlich frei. Das bedeutet, dass er nur für eine gewisse Zeitspanne sein Amt versah und jederzeit vom Grundherrn abgesetzt werden konnte. Der Haupthof war aber nicht nur hinsichtlich der Organisation des umfangreichen Mindener Grundbesitzes ein wichtiger Ort. Um den Angehörigen des Hofesverbandes den Gang zur Kirche zu ermöglichen, gründete der Bischof auf den Gründen der curia ein Gotteshaus, das sich später zur Keimzelle eines eigenständigen Kirchspiels entwickeln sollte.

Der Holzhauser Haupt- oder Meierhof besaß also eine besondere Stellung innerhalb des ländlichen Siedlungsgefüges. Diese herausgehobene Position bewahrten die Besitzer der Stätte weit über das Mittelalter hinaus – selbst zu einer Zeit, als sie keine „absetzbaren Wirtschafter“ mehr waren, sondern ihnen das Erbrecht an dem Hof nach der Aufteilung der Villikation erblich zugefallen waren. Die Bewohner des Holzhauser Meierhofs waren zum Beispiel während der Frühen Neuzeit eingebunden in die staatliche Steuereinziehung. Gleichzeitig betrieben sie eine ausgedehnte Landwirtschaft und verfügten über umfangreichen Viehstand – den größten Teil ihres Lebensunterhalts bestritten sie als Bauern oder „Kolone“, wie es zeitgenössisch hieß.

Zwischen 1614 und 1707 lebte mit Caspar Overmeyer ein sogenannter „Rezeptor“ oder „Obereinnehmer“ auf dem Gehöft. Er zog für den brandenburgischen Staat, der im 17. Jahrhundert die Landesherrschaft in der Grafschaft Ravensberg angetreten hatte, die Steuern ein. Caspar Overmeyer gelang es, zu Ansehen und Wohlstand zu gelangen. Unter anderem trat er als Kreditgeber auf und ließ die Gebäude seines Gehöfts erweitern beziehungsweise ausbauen. Zudem war er bei Konflikten und Streitigkeiten als Zeuge und vermittelnde Instanz ein gefragter Mann. Sein Besitz ermöglichte es ihm, seinem Sohn Hieronymus Johannes eine Ausbildung am Gymnasium in Bremen zu verschaffen. Hieronymus Johannes folgte seinem Vater übrigens später in der Funktion als Obereinnehmer des ravensbergischen Amtes Limberg.

Caspar Overmeyer starb hochbetagt im Oktober 1707 im Alter von 93 Jahren – nicht ohne Grund bezeichneten ihn die Zeitgenossen als „alten Overmeyer“. Seine 1618 geborene Ehefrau Anna Elisabeth Rummers überlebte ihn um zwei Tage. Zum Gedenken an das Ehepaar ließen die Angehörigen einen großen Grabstein anfertigen, der heute an der Ostseite des Haupthauses des Meierhofes eingelassen ist. Er erinnert einerseits an den Einfluss und die Tätigkeit des „alten Overemeyers“ und ist andererseits ein bemerkenswertes Zeugnis für die herausgehobene gesellschaftliche Stellung dieser Bauernfamilie. Sogar ein Wappen ziert das Grabdenkmal, nämlich ein Herz, aus dem drei Kleeblätter am Stiel hervorwachsen. Mit diesem Wappen siegelte Overmeyer auch Urkunden und Verträge. Auf diese Weise hob er sich deutlich von der übrigen bäuerlichen Bevölkerung in der Bauerschaft Holzhausen ab.

Dem Adel ähnlich – so könnte man die Lebensweise Overmeyers beschreiben. Zumindest ist unverkennbar, dass sich die Besitzer des Hofes am Adel orientierten. Demzufolge verwundert es kaum, dass Hieronymus Johann Overmeyer, der Sohn des „alten Overmeyers“, mit Katharina Hollfeld verheiratet war, deren Eltern das adlige Gut Brüggehof im Kirchspiel Holzhausen gehörte. Und im Holzhauser Gotteshaus gehörte der Familie Overmeyer ein Kirchenstuhl in unmittelbarer Nähe des Altars – Auge in Auge mit dem örtlichen Adel also.

Ihren außergewöhnlichen Status konnte die Familie das gesamte 18. Jahrhundert hindurch halten, wie folgendes Beispiel zeigt: Vor 1781 hatte der Eigentümer des Hofes für seinen Sohn bei Meister Drebber in Osnabrück ein Klavier fertigen lassen. Ein solches Musikinstrument war seinerzeit in bäuerlichen Besitzungen ansonsten nirgends zu finden. Die Sprösslinge des Adels, angesehener Bürger- oder Pfarrerdynastien wurden dagegen anscheinend regelmäßig im Klavierspiel unterrichtet. Doch Overmeyer junior zeigte anscheinend nicht genügend Talent oder Muße für die Musik. Deshalb entschloss sich sein Vater im Jahr 1781, das kostbare Objekt wieder zu veräußern. Hilfesuchend wandte er sich an den Herrn von Schele, der das ebenfalls zum Kirchspiel Holzhausen zählende Rittergut Hudenbeck bewohnte. Er vermittelte den Kontakt zu seinem Schwager, dem Oberstleutnant von Oheimb zu Holzhausen an der Porta (heute Ortsteil der Stadt Porta-Westfalica), der ein Klavier für seinen Sohn suchte. Tatsächlich wurde man sich einig, sodass das Instrument für fünf Pistolen, womit eine Goldmünze im Wert von fünf Talern gemeint ist, seinen Besitzer wechselte.

Der Kolon und das Klavier – diese Beziehung währte nicht lange und lässt sich auch nicht als Erfolgsgeschichte erzählen. Dennoch zeugt diese Episode eindrücklich davon, welche besondere Position die Familie Overmeyer in ihrer ländlichen Umgebung einnahm. Sie bewegte sich zwischen der bäuerlichen und adligen Lebenswelt und wusste genau, wie man die Klaviatur der Standesnormen zu spielen hatte.