Mission in Samoa – Der Reisebericht einer emsländischen Nonne aus Baccum

28.03.2023 Niklas Regenbrecht

Paul Steffens

Dieser Beitrag geht aus einem Aufruf zum Thema „Koloniales Erbe vom Dachboden: angeschaut und nachgefragt“ der LWL-Kommission für Alltagskulturforschung gemeinsam mit dem Westfälischem Heimatbund (WHB) hervor. Die Menschen in Westfalen-Lippe waren in diesem Aufruf gebeten worden, privaten Besitz und private Sammlungen mit kolonialem Kontext bekannt zu geben. Im Rahmen eines Bachelor- und Master- Seminars an der Universität Münster (Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie) haben Studierende sich mit verschiedenen Artefakten aus Privatbesitz auseinandergesetzt, die als Beute, Andenken oder Geschenk ihren Weg nach Europa gefunden haben und in privaten Haushalten aufbewahrt wurden.

 

Der Maristenorden

Der hier untersuchte knapp 30-seitige Reisebericht der Maristenschwester Anastasia, mit bürgerlichem Namen Maria Wolterkessen, handelt von ihrem Weg in die Kolonie Deutsch-Samoa. Der Maristenorden ist ein aus Lyon, Frankreich, stammender Orden, der sich ab 1900 auch in Deutschland ausbreitete. Die erste deutsche Niederlassung war in Meppen, 25 km entfernt davon liegen Baccum und der Hof der Familie Wolterkessen. Der Maristenorden war einer der ersten Orden, die im Pazifikraum missionarisch tätig wurden. Der Orden versteht sich als „Baum mit vielen Zweigen“ und ist eigenen Aussagen zufolge heute in Asien, Afrika, Süd- und Nordamerika, dem Pazifik und in Europa aktiv. Anders als andere Missionsunternehmen fand die Mission auf den Samoanischen Inseln mit dem Ersten Weltkrieg kein Ende, sondern wurde bis heute ununterbrochen fortgeführt.  

Familie Wolterkessen vor dem Hof der Familie um 1900. (Foto: Familie Wolterkessen)

Die Familie Wolterkessen

Der Vater der sechs-köpfigen Familie Wolterkessen starb schon 1900, die Mutter Sophie zog die Kinder von da an alleine groß. Von den fünf Kindern erlag der älteste Sohn 1919 in Kriegsgefangenschaft der Spanischen Grippe. Sein jüngerer Bruder trat, wie auch seine Schwestern Caroline und Maria in den Maristenorden ein. Die jüngste Schwester, Lucia Wolterkessen, heiratete 1920 in die Familie Hoppe ein. Heinrich Wolterkessen blieb als Pater Heinrich am Maristenkloster in Meppen, während Caroline und Maria als Schwester Paula und Schwester Anastasia im Abstand von drei Jahren in die Mission nach Samoa gingen. Schwester Paula kehrte 1939 noch einmal für einen Besuch nach Deutschland zurück. Auf der Rückreise zur Missionsstation verstarb sie und wurde auf Samoa beigesetzt.

Provenienzgeschichte des Reiseberichts

Die 1909 angetretene Reise in die damalige deutsche Kolonie hat Schwester Anastasia in einem Reisebericht festgehalten, der nach ihrem Tod 1978 zusammen mit einem Nachruf und Fotos aus ihrer Missionszeit von dem Maristenorden an die nächsten Verwandten übergeben wurde. Über die Nachkommen der Missionsschwester fand er seinen Weg in das Emslandmuseum Lingen und wurde von dessen Leiter Andreas Eyinck für das Seminar zur Verfügung gestellt.

Einordung in die Kolonialgeschichte Samoas

Durch den „Samoa Vertrag“ 1898 fiel Westsamoa an das Deutsche Reich. Am 1.März 1900 wurde die Reichsflagge auf Samoa gehisst und die Region zum deutschen Schutzgebiet unter Führung von General Solf erklärt.  

Schwester Anastasia beim Füttern von Hühnern während ihrer Missionstätigkeit auf Samoa. (Foto: Familie Wolterkessen)

Der Reisebericht von Schwester Anastasia

Der Reisebericht von Schwester Anastasia, der sich an ihre Familie richtet, beginnt am 21.10.1909 mit der Abfahrt von Marseille in Richtung Samoa. Sie berichtet auf den knapp 30 Seiten über das Wetter, die See und vor allem über ihren Glauben und ihre Liebe zu Gott. Ihr Reisebericht lässt keinen Tag der Reise aus, auch wenn sie an Seetagen teilweise nur einige wenige Sätze niederschreibt. Bei Landgängen beschreibt sie immer wieder die dort lebenden und arbeitenden Menschen. Sie geht mit der Motivation nach Samoa „den armen Seelen, welche den lieben Gott nicht kennen und welche noch unter der Sklaverei der Sünde und des Teufels sich befinden“ (S.4), Gott näher zu bringen.

Ihre Beschreibungen der Menschen, die ihr bei Landgängen begegneten, dokumentieren ein zeitgenössisches Weltbild, nach dem Menschen in „Rassen“ eingeteilt waren. Schwester Anastasia betrachtete die „kohlenschwarze Menschenrasse“ (S.9) als „Wilde“ („wilde Somalikinder“ (S.9)). Sie versucht, die Fremdheitserfahrung zu verarbeiten, indem sie Männer, die das Schiff in Port Said (Ägypten) mit Kohle beladen als „schwarze Männchen“ (S.5) bezeichnet, sie also gleichsam verkleinert. Andererseits tituliert sie die Ägypter auch als „schwarze Söhne Nubiens“ (S.5) und greift mit dieser Bezeichnung ein gängiges Stereotyp auf. Schwester Anastasia war eine junge Frau vom Land, die vor dieser Reise kaum jemals weitergekommen war als in die nächstgelegene Kleinstadt. Ihr Einsatz in der Mission stellte in der Kaiserzeit eine der wenigen, wenn auch häufig genutzten Möglichkeiten für Frauen dar, einen vorgezeichneten Lebensweg zu verlassen und mehr von der Welt kennenzulernen als das eigene Dorf. Andererseits bedeutete der Einsatz in einer Missionsstation auch die Konfrontation mit Fremdem. Das wird ihr bereits auf der Reise bewusst: „Was für Land und was für Volk“ (S.10) schreibt sie über die Menschen, deren Land sie besucht.

Reiseberichtseintrag vom 10.11.1909 über den Landgang in Colombo, Sri Lanka. (Foto: Familie Wolterkessen)

Auch fremde Rituale, bei denen unklar ist, ob sie ihnen selbst beigewohnt oder davon nur Erzählungen gehört hat, lösen bei ihr Vorbehalte und Ängste aus. So berichtet sie nach einem Landgang am Golf von Aden, von einer „Rasse“ Menschen die ihre Toten nackt auf einen Rost an einer bestimmten Stelle legen, woraufhin „Vögel kommen, die die Leichen auffressen, bis kein Fleisch mehr auf den Knochen ist“ (S.10). Daraufhin würden die Knochen ins Meer geworfen. (Vgl. S. 10) Am deutlichsten wird ihr Weltbild bei einer Landung in Colombo, Sri Lanka, bei der sie beobachtet, dass die Menschen, die ihre Kutsche ziehen, „sie anschauen als hätten sie noch nie einen Menschen gesehen“ (S.14). Dass sie den Einheimischen auf Sri Lanka ebenso fremd und absonderlich erscheinen muss wie diese ihr, kommt ihr nicht in den Sinn. Auf das Befremden ihres Gegenübers kann sie nur mit Abwertung reagieren. Dementsprechend hofft sie, dass die britischen Kolonisatoren den „Wilden“ „Ordnung und Gehorsam“ (S.15) beibringen.

Am 18. Dezember 1909 erreicht Schwester Anastasia schließlich Samoa. Ihr Bericht schließt mit dieser Ankunft. Aus ihrem Nachruf seitens des Maristenordens geht hervor, dass sie während ihrer Missionszeit in allen möglichen Bereichen der Mission eingesetzt wurde. Hier wären ihre Tätigkeiten als Lehrerin, Köchin und als Leiterin einzelner Missionsstationen zu nennen. Sie arbeitete in der Mission bis sie 1963 in den Ruhestand ging. 1978 ist sie auf Samoa verstorben.

Angesichts ihrer enormen Vorbehalte und ihrer Schwierigkeiten, die Fremdheitserfahrungen auf der Reise zu verarbeiten, ist es erstaunlich, dass sie in dem Nachruf des Ordens als sehr verbunden mit den Samoaner:innen beschrieben wird – vor allem den Kindern soll sie wie eine Mutter gewesen sein. Von ihren Erfahrungen und dem Reisebericht inspiriert, entschied sich eine Verwandte nach dem Tod von Schwester Anastasia ebenfalls in einen Orden (Thüner Franziskanerinnen) einzutreten.

Quelle:

Maria Wolterkessen; Reisebericht der Maristenschwester Anastasia Wolterkessen von der Überfahrt nach Samoa (1909) und Nachruf von Maristenpater Albert Merten (Samoa). (Privatbesitz Familie Wolterkessen; Kopie im Emslandmuseum Lingen)

Literatur:

Zum Maristenorden: https://maristenpatres.de/orden.html (zuletzt abgerufen am 14.2.23)

http://www.smsmsisters.org/index.php (zuletzt abgerufen am 15.2.23)

Klein, Thoralf: Mission und Kolonialismus – eine transnationale und transimperiale Verflechtungsgeschichte. In: Aus Westfalen in die Südsee. Katholische Mission in den deutschen Kolonien, hrsg. von Silke Hensel und Barbara Rommé, Berlin 2018, S. 18-29.

Mückler, Hermann: Katholische und protestantische Missionsbestrebungen in Ozeanien von den 1850er Jahren bis 1918. In: Aus Westfalen in die Südsee. Katholische Mission in den deutschen Kolonien, hrsg. von Silke Hensel und Barbara Rommé, Berlin 2018, S. 30-39.

Kategorie: Aus der Uni

Schlagworte: Kolonialismus · Paul Steffens