Kathrin Schulte
Wie kommt der Stempel einer nationalsozialistischen Organisation in ein Buch über Frankreichs Sprache und Kultur in der Bibliothek der Kulturanthropologie in Münster? Was hat es mit einem geflochtenen Haarkranz im Archiv für Alltagskultur auf sich? Dieser und vielen weiteren Fragen gehen die Autor:innen in der Rubrik „Woher ist das?“ im Magazin Graugold auf den Grund.
Ob NS-Raubgut oder Objekte, die in kolonialem Zusammenhang entwendet wurden – Provenienzforschung ist ein Thema, das wissenschaftliche wie mediale Aufmerksamkeit auf sich zieht. Eine wichtige Grundlage für die Provenienzforschung stellen die am 3. Dezember 1998 von 44 Staaten und 13 nichtstaatlichen Organisationen unterzeichneten „Grundsätze der Washingtoner Konferenz in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden“ (kurz Washingtoner Erklärung) dar. In dieser (rechtlich nicht bindenden) Erklärung verpflichten sich die Unterzeichnenden, während des Nationalsozialismus beschlagnahmte oder weit unter Wert verkaufte Kunstwerke und Kulturgut als Raubgut zu identifizieren, die vormaligen Eigentümer:innen oder deren Erb:inn:en ausfindig zu machen und mit diesen eine Lösung für den weiteren Umgang mit den entsprechenden Objekten zu finden.
Auch Deutschland unterzeichnete die Washingtoner Erklärung und verabschiedete am 9. Dezember 1999 die „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“.
Im selben Jahr war auch die deutschlandweit erste Mitarbeiterin für Provenienzforschung an den Bayrischen Staatsgemäldesammlungen eingestellt worden; bis heute hat sich die Anzahl der Stellen und Forschungsprojekte zur Provenienz an den Museen und in Bibliotheken vervielfacht. Bis zum Jahr 2005 wurden allerdings von schätzungsweise nach wie vor mindestens mehreren Zehntausend geraubten Stücken lediglich 160 Gemälde, Zeichnungen und Grafiken sowie mehr als 1.000 Bücher als Raubgut identifiziert und zurückgegeben. Gleichwohl sind Restitutionsforderungen und deren Zurückweisung so alt wie der Raub von Kulturgut in der kolonialen Expansion. So gab es auch unabhängig von der Washingtoner Erklärung und der Rückgabe von NS-Raubgut Fragen nach der Provenienz von Sammlungen. Internationales Aufsehen erregte beispielsweise 2022 die Rückgabe der von der britischen Kolonialmacht zu Kolonialzeiten entwendeten und in alle Welt verkauften Benin-Bronzen durch die Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz sowie von Museen in Stuttgart, Leipzig, Hamburg und Köln an den Staat Nigeria.
Auch in westfälischen Kultureinrichtungen ist das Thema Provenienzforschung präsent: In Münster erforscht beispielsweise eine Mitarbeiterin des LWL-Museums für Kunst und Kultur seit 2018 die Provenienz von Kunstwerken und Objekten in den Beständen des Hauses; am Museum für Kunst und Kulturgeschichte, MKK, in Dortmund gab es das erste Provenienzforschungsprojekt im Jahr 2009 in Kooperation mit dem Museum Folkwang in Essen und der Arbeitsstelle für Provenienzrecherche und Provenienzforschung in Berlin.
Provenienzforschung betrifft jedoch nicht nur Spitzenkunst und herausragende Einzelstücke. Auch vermeintlich unscheinbare Archivalien, Bücher in Bibliotheken oder privathäusliche Dachbodenfunde haben eine eigene Herkunftsgeschichte, die beispielsweise von kolonialen Machtverhältnissen, Gewalt, touristischen Reisen oder von christlichen Missionierungsvorhaben erzählt. Beispielsweise finden sich menschliche Überreste wie Knochen, Haare oder Zähne in vielen nicht nur musealen Sammlungen. Woher und vom wem stammen sie? Wie können wir zu einem angemessenen Umgang mit ihnen finden? Was sagt ihr Vorhandensein über die jeweilige Sammlung und ihr Zustandekommen oder über diejenigen aus, die diese menschlichen Überreste gesammelt haben? Unter welchen Umständen sind sie in deren Besitz gelangt?
Die den Dingen anhaftende Geschichte gibt stets Aufschluss über die Politik und Praxis des Sammelns, über individuelle und gesellschaftliche Werthaltungen und über den Umgang mit Sammlungsgut – und mit dem Eigentum anderer Menschen. Wer der Herkunft einzelner Gegenstände auf den Grund gehen möchte, stößt an Grenzen des Erforschbaren wie an die Weigerung, begangenes Unrecht anzuerkennen und zumindest Eigentum wieder zurückzugeben. Manchmal ist das Zustandekommen einer Sammlung schlecht dokumentiert, oft aber ergibt eine Forschung die erforderlichen Informationen. Das zeigt, dass es nicht zuletzt auch um den politischen Willen geht, den Raub von Kunst und Kulturgut in Gewaltverhältnissen zuzugeben, zu dokumentieren und zu restituieren.
Und schließlich haben solche Forschungen zur Rechtmäßigkeit des Erwerbs von Sammlungsstücken neue, kulturhistorische Fragen nach der Geschichtlichkeit der kulturellen Überlieferung aller Art überhaupt aufgeworfen. Geht man solchen Fragen nach, zeigen sich oft vielfältige Wege der Produktion und Zirkulation eines Gegenstands, deren Dokumentation mindestens ebenso viele Informationen liefert, wie die Stücke selbst.