„Die Straßen des Führers“. Baedekers Autoführer Deutsches Reich von 1938 (ohne das Land Österreich)

05.09.2023 Marcel Brüntrup

Christiane Cantauw

Vor einiger Zeit wurde in diesem Blog ein Reiseführer aus der Baedeker-Reihe vorgestellt. Zahlreiche weitere Bände der bekannten Reiseführer gelangten infolge einer Erbschaft in den Besitz der Kommission Alltagskulturforschung. In der Bibliothek der Kommission stehen sie nun der Allgemeinheit zur Verfügung. Thema dieses Beitrags ist Baedekers Autoführer (Bd. 1).

Mit dem Autoführer, der mit seinem roten Kunstledereinband mit goldener Prägeschrift dem bereits eingeführten Erscheinungsbild der Baedeker-Reiseführer entsprach, wandte sich der Baedeker-Verlag erstmals einer neuen Reiseform, dem Autoreisen, zu. (Foto: Kommission Alltagskulturforschung)

Der 1938 erschienene „Autoführer Deutsches Reich“ war laut Untertitel „Offizieller Führer des Deutschen Automobil-Clubs“. Dementsprechend enthält das 632 Seiten umfassende Druckwerk, das von dem Redakteur Oskar Steinheil (+ 1971) erarbeitet wurde, auch ein Geleitwort des Präsidenten des Deutschen Automobil-Clubs (DDAC), Günther Freiherr von Egloffstein (1896–1938).

Im Zuge der ‚Gleichschaltung‘ war am 24. Juli 1933 durch einen ‚Pakt von Baden-Baden‘ genannten Vertrag, den die Vertreter der vier größten Automobilclubs (ADAC, AvD, DTC, NDA) unterzeichneten, die Führung im deutschen Kraftfahrwesen auf das von Adolf Hühnlein (1881–1942) geleitete NSKK, das Nationalsozialistische Kraftfahr-Korps, übergegangen. Am 20. April 1931 aus dem Nationalsozialistischen Automobil-Korps entstanden entwickelte sich das NSKK nach der Machtübernahme 1933 zu einer multifunktionalen Organisation, zuständig unter anderem für politische und motorsportliche Großveranstaltungen, für Verkehrserziehung und für die Führung des automobilen Vereinswesens. Am 23. August 1934 wurden NSKK und Motor-SA aus der SA herausgelöst, zu einer selbständigen Parteigliederung der NSDAP vereinigt und als NSKK Adolf Hitler direkt unterstellt. Im Zweiten Weltkrieg unterstützte das NSKK logistisch die Kriegswirtschaft und war unter anderem an der Deportation von Juden beteiligt.

Das Zitat von Adolf Hitler auf der linken Seite und das Signet des Deutschen Automobil-Clubs e.V. (DDAC) belegen die nationalsozialistische Ausrichtung des Reisehandbuchs. (Foto: Kommission Alltagskulturforschung)

Am 27. September 1933 wurde durch ein Übereinkommen zwischen dem ADAC und dem NSKK der deutsche Automobil-Club e. V. (DDAC) gegründet, der die teilweise seit vielen Jahrzehnten existierenden Automobil- und Motorrad-Clubs ersetzen sollte. Die offizielle Gründungsfeier des DDAC erfolgte am 30. November 1933, nachdem sich die alten Mobilclubs im Oktober 1933 selbst aufgelöst hatten. Seine politische Macht war jedoch im Gegensatz zum NSKK vergleichsweise gering; die hauptsächlichen Aufgabenfelder waren Serviceleistungen für Mitglieder, darunter juristische und technische Beratungen, Rechtsschutz, Erstellung von Gutachten, die Herausgabe von Straßenkarten und von touristischen Automobil-Reiseführern.

Zielsetzung des hier vorgestellten Reiseführers war es, den deutschen und ausländischen PKW-Reisenden Informationen über lohnende Autoreiseziele im Deutschen Reich an die Hand zu geben. Die ideologische Stoßrichtung des Handbuchs zeigt sich dabei gleich zu Beginn an einem Hitlerzitat, das dem Buch vorangestellt wurde. Auch das Geleitwort von Günther Freiherr von Egloffstein dokumentiert – so wie auch andere Textstellen – Begeisterung für den Nationalsozialismus: „Die Straßen des Führers, die des Reiches Schönheiten in ungeahntem Ausmaße neu erschließen, machen Deutschland noch mehr wie [sic!] bisher zum idealen Reiseland, und wir wollen mit diesem Buche beitragen, den Genuß der Reisen ideell und praktisch zu erhöhen.“ (nicht paginiert)

Der Aufbau des Reiseführers folgt einem im Baedeker-Verlag üblichen Schema: Nach einer Einleitung mit praktischen Tipps folgt eine ins Detail gehende inhaltliche Darstellung, in diesem Fall eine dreigegliederte Darstellung der Landschaften, Städte und Dörfer A) entlang der Reichsautobahnen und B) entlang der Reichsstraßen. In Abschnitt C) werden schließlich noch die größeren Städte und einige Landschaften vorgestellt.

Erklärtermaßen sollte „die unendliche Mannigfaltigkeit Deutschlands“ nicht wie in anderen Reisehandbüchern des Verlags ‚erwandert‘, sondern ‚erfahren‘ werden (S. V). Dazu wird eingangs ein grober Überblick über die möglichen Ziele gegeben, bei dem nach Möglichkeit auch auf die vermeintlichen Errungenschaften des Nationalsozialismus verwiesen wurde: „Vielgestaltig, ohne klar entschiedene Naturgrenzen nach allen Richtungen ausstrahlend, bildet das Deutsche Reich Mitte und Herz Europas. (…) Tiefe landschaftliche Unterschiede und die Unstetigkeit der geschichtlichen Entwicklung schufen eine Fülle von Stammeseigentümlichkeiten, die der innerste Besitz der deutschen Volksgemeinschaft geblieben sind. (…) Allenthalben tragen die großen Städte die Zeichen der weitschauenden Bauplanung des Dritten Reiches.“ (S. VII)

Über Westfalen heißt es in dieser Überblicksdarstellung: „Der Kern des südwestlich angrenzenden Westfalen ist das Münsterland, in dem malerische Wasserburgen und stattliche Gutshöfe alteingesessenes Bauerntum verkörpern. Die Provinzhauptstadt Münster, deren Reichtum an Kirchen schon den geistlichen Mittelpunkt verrät, bekommt in ihrer Altstadt durch die hochgiebeligen Laubenhäuser und die barocken ‚Höfe‘ des Landadels einen Zug ins Behagliche. Soest ist in der Geschlossenheit seines alten Stadtbildes ein wahres Kleinod und besitzt wie auch Paderborn zahlreiche schöne alte Kirchen. Im Süden der Provinz bildet das Sauerland ein waldreiches Erholungsgebiet (Arnsberg, Brilon) für das Industrierevier.“ (S. XII)

Kurzinformationen über die beste Reisezeit, das deutsche Straßennetz, die „Organisation der deutschen Kraftfahrt“ sowie Unterkünfte und Verpflegung schließen den Einleitungsteil ab.

Bezeichnend ist, dass das nationalsozialistische Vorzeigeprojekt, die deutschen Reichsautobahnen, mit zwei der bekannten Sternchen bezeichnet sind, mit denen in den Baedeker-Reisehandbüchern die Sehenswürdigkeiten kategorisiert werden. Dass Autobahnen bereits in den 1920er Jahren geplant wurden (wenn auch noch unter der Bezeichnung Kraftfahrstraße) und dass die Reichsautobahnen im Wesentlichen das Ergebnis der Arbeit von zum Arbeitsdienst zwangsverpflichteten Arbeitslosen waren, findet keine Erwähnung. Vielmehr heißt es im Text: „Die **Reichsautobahnen, ‚die Straßen Adolf Hitlers‘, deren Idee und Gestaltung unmittelbar auf den Führer zurückgeht, bilden das großartigste Bauwerk des Deutschen Reiches und schon jetzt das modernste Straßennetz der Erde. Das in der Planung etwa 10000 km umfassende, das ganze Reich überspannende Verkehrsnetz, das im Rahmen des großen Arbeitsbeschaffungsprogramms 1933 in Angriff genommen wurde (…), war Ende 1937 bereits auf 2000 km fertiggestellt und weist dem Reiseverkehr schon jetzt neue großartige Wege von eigenartiger Schönheit.“ (S. XX)

Das Netz der mit zwei Sternen als Sehenswürdigkeit ausgezeichneten Reichsautobahnen wurde auch auf einer Karte veranschaulicht. (Foto: Kommission Alltagskulturforschung)

Superlative spielen im gesamten Handbuch eine wichtige Rolle. Sieht man sich Teil A (Reichsautobahnen) und B (Reichsstraßen und sonstige wichtige Touristenstraßen) unter besonderer Berücksichtigung Westfalens an, so erfährt man beispielsweise über die 126 Kilometer lange Reichsautobahn XII von Köln über Duisburg nach Dortmund: „Die Bedeutung und Sehenswürdigkeit dieser Autobahn liegt in der technisch und landschaftlich großartigen Durchquerung des Rheinisch-westfälischen Industriegebiets, eines der größten Industriebezirke Europas, dessen ineinander übergehende Städte und Industrieanlagen mit ihrem dichten Straßen-, Eisenbahn- und Kanalnetz die meisten Brückenbauten unter allen Reichsautobahnen nötig machten.“ (S.27)

Besondere Erwähnung findet im Abschnitt A für Westfalen einzig das Schiffshebewerk Henrichenburg („Henrichenburg, mit großem Schiffshebewerk des Dortmund-Ems-Kanals“ (S.29). Und zu Wattenscheid (heute Stadtteil von Bochum) ist zu lesen: „Wattenscheid (85m), Stadt von 62000 Einwohnern, mit Steinkohlengruben.“ (Teil B, S.50) Es fällt auf, dass die Städte und Regionen vielfach so vorgestellt werden, als ob sie nur im Vorbeifahren wahrgenommen würden – ganz so, wie der von Adolf Hitler im Juni 1933 ernannte Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen Fritz Todt (1891–1942) das „wohltuende Autowandern“ propagierte.

Die begehrte Sternchen-Auszeichnung erhalten im Abschnitt B in Westfalen nur die Externsteine („eine bedeutende vorchristliche Kultstätte der Germanen, vielleicht auch der Standort der Irminsul“ (S.49)), die Dechenhöhle und der Kahle Asten. Die Irminsul wird aber nicht nur an der Externsteinen, sondern auch bei Obermarsberg verortet: An „der Stelle der 772 von Karl d. Gr. zerstörten Sachsenfeste Eresburg; hier stand vermutlich auch die Irminsul, das Hauptheiligtum der Sachsen.“ (S.104)

Für einige Städte finden sich in dem Autoführer auch ausklappbare Stadtpläne. (Foto: Kommission Alltagskulturforschung)

An mehreren Stellen wird darauf hingewiesen, dass im dritten Abschnitt des Reiseführers noch eingehende Beschreibungen einzelner Städte und Regionen folgen. Das konnten natürlich nur wenige der deutschen Städte sein, deshalb wird die Erwartungshaltung des Lesepublikums gleich eingangs von Teil C gedämpft: „Die hier nicht genannten Orte, die dadurch nicht zurückgesetzt werden sollen, suche man mit Hilfe des Registers am Ende des Buches.“ (S.460)

Für Westfalen wird in diesem Abschnitt näher auf die Städte Bielefeld („In der Horst-Wessel-Straße Nr. 37 das Geburtshaus von Horst Wessel“ (S.480)), Bochum, Detmold („1936 wurde eine Pflegestätte für Germanenkunde eröffnet“ (S.493)), Dortmund („Im Südwesten der Volksparkt mit der 1925 erbauten Westfalenhalle, dem 1936 begonnenen Gauhaus der NSDAP, und der Kampfbahn ‚Rote Erde‘“ (S.494)), Hagen, Minden, Münster („Sitz der Gauleitung Westfalen-Nord der NSDAP“ (S.567)), Paderborn und Soest eingegangen. Außerdem wird das Sauerland beschrieben. Der Dom, das Rathaus und die Lambertikirche in Münster erhalten immerhin einen Stern.

Der Autoreiseführer wartete auch mit einer Übersicht über die in Deutschland gültigen Verkehrszeichen auf. Hier finden sich auch einige Schilder, die heute nicht mehr bekannt sind. (Foto: Kommission Alltagskulturforschung)

Jenseits nationalsozialistischer Propaganda ist der Autoreiseführer letztlich auch ein Beleg dafür, wie neu und ungewohnt der motorisierte Individualverkehr 1938 noch war. So schien das Verhalten auf der Autobahn durchaus erklärungsbedürftig: „Halten außerhalb der in regelmäßigen Abständen angelegten Parkplätze ist nur scharf rechts und nur für die unbedingt nötige Zeit gestattet“, „Wenden und Queren der Fahrbahnen und des Grünstreifens ist streng verboten (auch zu Fuß)“. (S.XXI) Obwohl sich der Bestand an PKWs von 1930 bis 1938 um mehr als das Zweieinhalbfache von 279.000 (1930) auf 715.000 (1938) erhöht hatte, waren privat genutzte PKWs nach wie vor ein Luxusgut, welches sich nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung leisten konnte. Der zahlenmäßig geringe motorisierte Verkehr erforderte noch keine umfangreichen Regelungen und Verbote. So war die „Höchstgeschwindigkeit auf freier Strecke wie in Ortschaften […] im allgemeinen nicht ziffernmäßig begrenzt“ (S. XXII) und auch die Anzahl der Verkehrszeichen war noch auf einer Buchseite darstellbar.