„You spin me right 'round, baby, right 'round, like a record, baby“: Discogeschichte(n)

24.10.2023 Niklas Regenbrecht

Ansicht des Bandes "D.I.S.C.O. cool – chic – crazy" (Foto: Schulte/LWL).

Timo Luks

„Disco“ ist ein komplexes Phänomen. Einerseits meint es einen Musik-, Kleidungs- und Tanzstil der 1970er Jahre. Den damit verbunden Klang und die entsprechenden Bilder haben viele im Ohr und vor Augen. Andererseits ist eine bestimmte Art von Ort gemeint. Das heißt dann wiederum, in einer Disco muss es nicht unbedingt aussehen und klingen wie in einem John Travolta-Film.

Eine Sonderausstellung im rock'n'popmuseum Gronau widmet sich momentan der Discogeschichte. Gleichzeitig erschien im Waxmann Verlag ein Begleitband (D.I.S.C.O. cool – chic – crazy, herausgegeben von Annette Hartmann, Martin Lücke und Thomas Mania), der das Thema in unterschiedliche Richtungen ausleuchtet – und entschieden Lust auf die Ausstellung macht.

In der Einleitung des reich bebilderten Bands bietet Thomas Mania, Kurator am rock'n'popmuseum (für die Ausstellung sind Annette Hartmann und Martin Lücke verantwortlich) eine kurze Vorstellung des Ausstellungskonzepts (eine Besprechung folgt). Er weist darauf hin, dass Ausstellungsplakat und Buchcover den eigentlichen Star ins Bild setzen: die Musik, genauer gesagt: die Musik auf Vinyl, die sich auf dem Plattenteller dreht und die Tanzfläche in einen besonderen Ort verwandelt.

Ansicht des Bandes "D.I.S.C.O. cool – chic – crazy" (Foto: Schulte/LWL).

Zahlreiche Beiträge drehen sich um dieses Thema: Aus verschiedenen Blickrichtungen geht es unter anderem um den Zusammenhang von Ton- und Schallplattentechnik, Vermarktungsstrategien der Musikindustrie, der sozialen Praxis von DJs usw. Es ist es kein Zufall, dass der Discoboom und die Einführung der Maxi-Single Mitte der 1970er Jahre zusammenfielen. Mit dem neuen Format kam die Plattenindustrie Bedürfnissen von „Schallplattenunterhalter:innen“ nach, schuf aber auch ein Produkt, das die Multiplikatorfunktion der DJs nutzte und auf das Discothekenpublikum als Käufer:innen zugeschnitten war. Carsten Brocker greift das in seinem Beitrag zum Sound of Disco auf. Er verweist auf die Bedeutung neuer Aufzeichnungsverfahren, dann aber vor allem auf die Vinyl-Maxi, die bei gleichem Durchmesser wie eine LP durch breitere Rillen und einen weiteren Rillenabstand einen größeren Dynamik- und Frequenzumfang, also etwa ausgeprägtere Höhen und Bässe ermöglichte.

Die Beiträge des Bands führen Disco und Club als „Sozialisationsfaktoren sowohl in musikalischer als auch gruppenkultureller Hinsicht“ vor. Die „Discothek“, so schreibt Thomas Mania, „ist mehr als Musik und Tanz, sie ist ein Ausdruck selbstgewählter szenenkultureller Zuordnung, die durch die dort repräsentierte Körper- und Modeästhetik weiteren Ausdruck erfährt.“ (S. 7) Anita Jóri argumentiert, dass es sich bei der Disco um einen Ort handelt, der von Anfang an mit Emanzipationsbewegungen minoritärer Gruppen verbunden war. Mit Blick auf die italoamerikanischen, hispanischen, lateinamerikanischen und Schwarzen Wurzeln von Disco in den USA konstatiert sie, dass es sich auch um eine „ethnische Befreiungsbewegung“ (S. 22) handelte. Ähnliches gilt für die Schwulenbewegung.

Ansicht des Bandes "D.I.S.C.O. cool – chic – crazy" (Foto: Schulte/LWL).

D.I.S.C.O. cool – chic – crazy lenkt die Aufmerksamkeit auf die beachtliche Vielfalt des Phänomens. Vor allem aber nimmt der Band einen Ort in den Blick, der vielleicht weniger cool, chic, crazy als die New Yorker Discos der 1970er Jahre ist, aber dafür die Breitenwirksamkeit der sozialen Praxis des Discothekenbesuchs dokumentiert: die Disco im ländlichen und kleinstädtischen Raum.

Klaus Nathaus‘ Beitrag zu DJ-Kulturen seit 1970 führt die Leser:innen etwa nach Bielefeld. Nathaus zitiert aus Akten des Bielefelder Ordnungsamts, das regelmäßig Kontrolleure in die örtlichen Tanzlokale sandte, um etwaige Missstände festzuhalten. Die Berichte bieten Einblicke in die Praktiken einer lokalen Unterhaltungsindustrie und ihrer Protagonist:innen: „Stadtamtmann Kruse etwa hörte im Old Crow die ‚laute, schreiende Stimme des Disc-Jockeys‘, der Beatmusik ansagte. Im Trocadero hingegen sah er zu seiner Zufriedenheit statt eines DJs ein fünfköpfiges Showorchester am Werk. Der DJ im Christopher of Bremen sang neben dem Plattenauflegen, spielte Gitarre und betätigte sich als Alleinunterhalter. In der Derby Bar kam dagegen die Musik gänzlich vom Band. Die Kontrolleure Haas und Weidmann waren bei einer Visite des Nachtlokals Esquire schließlich überrascht, einen jungen Mann Schallplatten auflegen zu sehen. Erwartet hatten sie eine Frau, die das Musikangebot wie die Kellner*innen des Lokals ‚oben ohne‘ servieren würde.“ (S. 45) Nathaus interpretiert diese Praktiken als Versuch von Plattenaufleger:innen, ihre Tätigkeit aufzuwerten – auch und gerade als zu entlohnende Dienstleistung.

Ansicht des Bandes "D.I.S.C.O. cool – chic – crazy" (Foto: Schulte/LWL).

Im ländlichen Raum ging das mit mit einer vielfältigen Nutzung der Lokalitäten einher. Michael Fischer, der im Band seine Forschungen zum Thema vorstellt, erinnert daran, dass Landdiscos oft aus Landgasthäusern hervorgingen. Tanz- und Kneipenbetrieb gingen ineinander über, und im Regelfall wurden diverse Showformate integriert. Fischer weiß zu berichten von: Kabaretts, Hypnoseshows, Frauen-Catchen, Quizveranstaltungen, Breakdance-Wettbewerben, Knödelwettessen, Wettjodeln usw.

Die Beschäftigung mit Discotheken zeugt auch von einem einsetzenden Historisierungsprozess, der nicht immer frei von Nostalgie ist. Die Gronauer Ausstellung und der Begleitband sind ebenso ein Zeichen dafür wie die Translozierung der Landdiscothek Zum Sonnenschein durch das Museumsdorf Cloppenburg – ein Projekt, das in D.I.S.C.O. ausführlich vorgestellt wird.

 

Literatur:

Annette Hartmann, Martin Lücke, Thomas Mania (Hrsg.): D.I.S.C.O. cool – chic – crazy, Popansichten, Band 2. Münster/New York 2023.