Ein Kötter baut ein großes Haus

12.09.2019

Holzhausen (heute Preußisch-Oldendorf - Bad Holzhausen): Der Ort des Geschehens; Foto: S. Schröder.

Ein Kötter baut ein großes Haus

oder: Die Strafjustiz der Bauerschaften

Sebastian Schröder

1655: In der zur Grafschaft Ravensberg gehörigen Bauerschaft Holzhausen (heute Preußisch Oldendorf-Bad Holzhausen) griffen deren Mitglieder zu Äxten und Beilen. So ausgerüstet zogen sie, angeführt von ihren Vorstehern Johann Wessling und Berendt Becker, in das „Holzhauser Holz“ im äußersten Westen des Ortes. Dort befand sich eine Häusergruppe, deren Besitzer seit dem 15. Jahrhundert die ursprünglich gemeinen Markengründe gerodet und sich auf dem urbar gemachten Land niedergelassen hatten – sogenannte Markenkötter. Diese bäuerliche Gruppe genoss allerdings nur eingeschränkte Rechte in der Bauerschaft und den Gemeinheitsländereien (Mark). Zu den örtlichen Markenköttern zählte auch David Vincke. Sein Gehöft war das Ziel der wehrhaften Truppe.

Doch was veranlasste die Bewohner der Bauerschaft, Vinckes Wohnort aufzusuchen – und noch dazu mit einer bedrohlichen Ausrüstung? Johann Wessling selbst ließ später dazu protokollieren: An die Stelle seines vormaligen Hauses habe Vincke ein neues Gebäude errichtet, das das alte in seiner Größe deutlich übertreffe. Vinckes Behausung gleiche der eines großen Meierhofes, dabei sei Vincke aber nur ein geringer Kötter! Neben sein stattliches Haus habe er zudem einen Stall und eine Scheune gebaut – und das auf gemeinen Markengründen. Ferner habe er das zum Bau benötigte Holz aus der Mark gestohlen und dabei nur die schönsten Bäume und Buchen ausgewählt, um daraus Latten zu schneiden. Solch ein Verhalten schade nicht nur der ganzen Mark, ereiferte sich der Vorsteher, sondern vor allem breche Vincke mit hergebrachten Gewohnheiten. „Mit seinen unwahrhafften gedichten“ führe Vincke die Bauerschaft an der Nase herum. Auf den Befehl, die Gebäude wieder abzubrechen, reagiere der Markenkötter nicht. Daher habe die gesamte Bauerschaft beschlossen, ihn nach altem Herkommen zu bestrafen. Kurzum: Vincke sei ein „hochtrabender“ und „eigenmuhtiger“ Mensch.

Vernehmungsprotokoll, Stadtarchiv Lübbecke, A 133, fol. 48r bzw. fol. 48v und 49r., Foto S. Schröder.
Vernehmungsprotokoll, Stadtarchiv Lübbecke, A 133, fol. 48r bzw. fol. 48v und 49r., Foto S. Schröder.

Folglich müsse sein Verhalten gestraft werden, so jedenfalls argumentierten die Vorsteher der Bauerschaft. Einige Bauern rüsteten sich deshalb mit Waffen und Werkzeugen aus und forderten Vincke auf, sein Haus zu verlassen. Tatsächlich trat er vor seine Schwelle, wo ihn Wessling ein letztes Mal aufforderte, das Haus selbst abzutragen. Nachdem Vincke sich abermals weigerte, dem Begehren Folge zu leisten, schlug Berendt Becker mit einer Axt in einen der tragenden Fachwerkständer des Stalles. Nach diesem ersten Schlag fuhr die Bauerschaft fort, bis der Stall zusammenfiel und gänzlich zerstört war. Gleiches geschah mit der Scheune. Bevor die Vorsteher und die übrigen Bauerschaftsmitglieder den Hof wieder verließen, pfändeten sie Vincke noch. Das Wohnhaus selbst rührten sie allerdings nicht an – wohl, weil es sich dabei um einen besonders geschützten Rechtsbereich handelte. Oder sie wollten sich die Möglichkeit einer weiteren Stufe der Sanktion offenhalten, indem sie später auch das Wohnhaus niederlegten.

Vincke klagte gegen das Vorgehen beim landesherrlichen Amtsgericht. Leider lässt sich der weitere Hergang des Konflikts aber nicht mehr ergründen, da die Gerichtsakten verloren gegangen sind.

Dieser historische Vorfall zeigt dennoch beispielhaft, wie das Leben der Menschen in einer westfälischen Bauerschaft funktionierte. Einerseits bestimmten gemeinschaftliche Zusammenschlüsse ihren Alltag. Bauerschaft und Markennutzer waren Personenverbände. Genossenschaftliche Beziehungen besaßen also eine große Bedeutung; dadurch ergab sich natürlich auch die Notwendigkeit gewohnheitsrechtlicher Absprachen. Die Nutzung der Ressourcen der Mark beispielsweise war streng geregelt: Den großgrundbesitzenden und alteingesessenen Bauern gestanden die Zeitgenossen weitgehende Rechte zu. Dagegen genossen die Markenkötter als nachsiedelnde Schichten lediglich geringere Ansprüche; die Heuerlinge waren noch schlechter gestellt. Soziale und wirtschaftliche Stellung standen in einem unauflöslichen Verhältnis zueinander; sie bedingten sich gegenseitig. In einer solchen gesellschaftlichen Hierarchie durfte ein Markenkötter kein Haus bauen, das in seiner Größe und Ausstattung an das Gehöft der bessergestellten Meier erinnerte – so jedenfalls Vorstellungen der Zeit.

Schließlich ist zu bemerken, dass die Bauerschaften zunächst keine obrigkeitlichen Gerichte oder übergeordnete Instanzen bemühten, um derartige Konflikte zu lösen. Vielmehr nutzten sie im Lauf der Zeit entwickelte Mechanismen, Verstöße gegen gewohnheitsrechtliche Praktiken selbst zu ahnden. Dabei sticht die hochgradig ritualisierte Form der Strafe ins Auge: Es waren die Vorsteher der Bauerschaft, die den ersten Hieb in das hölzerne Gerüst des Stalles und der Scheune vornahmen. Reihum folgten ihnen die übrigen Bauern – bis die Gebäude wie ein Kartenhaus in sich zusammenfielen. In symbolischer Hinsicht war damit die soziale Rangordnung wieder hergestellt worden. Gleichzeitig mahnten die kläglichen Überreste und die gemeinschaftliche Durchführung der Strafaktion alle Bewohner des Ortes, zukünftig die althergebrachten Normen zu beachten – ansonsten drohte ihren Häusern das gleiche Schicksal.