„Gastfrei zu sein vergesset nicht; denn dadurch haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt“ (Hebr. 13,2): Ein Reisehandbuch für die christliche Familie

08.10.2024 Niklas Regenbrecht

Christiane Cantauw

Unter der Signatur Fr 64 findet sich in der Bibliothek der Kommission Alltagskulturforschung ein in blaues Leinen gebundenes Büchlein. Jugendstilornamente umrahmen den Titel: Reisehandbuch für die christliche Familie. Was hat es mit diesem Buch auf sich? Wozu benötig(t)en christliche Familien ein eigens auf sie zugeschnittenes Reisehandbuch?

Das „Reisehandbuch für die christliche Familie“ aus der Bibliothek der Kommission Alltagskulturforschung stammt aus der Zeit zwischen 1902 und 1904 und enthält Informationen über christliche Unterkünfte in Deutschland und benachbarten Ländern. (Foto: Cantauw)

Wer erwartet hat, dass diese Fragen in einem Vorwort oder einer Einleitung beantwortet würden, sieht sich enttäuscht. Das Buch enthält keines von beidem. Der Untertitel verrät allerdings, dass es „Ein Wegweiser durch die Hospize, Pensionen, Erholungsorte, Bäder, Luftkurorte, Sanatorien, Erziehungs- und Unterrichtsanstalten“ sein will. Außerdem bietet es praktische Auskünfte für Reise und Haus an. Die Tatsache, dass es sich bei der vorliegenden bereits um die 7. verbesserte und vermehrte Auflage handelt, verweist auf das Interesse des Reisepublikums an der Publikation. Ein konkretes Erscheinungsjahr ist nicht angegeben; erschienen ist sie zwischen 1900 und 1904 im Verlag der Buchhandlung der Berliner Stadtmission.

Schaut man sich den Inhalt eingehender an, so wird deutlich, dass christlichen Alleinreisenden und reisewilligen Familien und Eltern (in Hinblick auf ihre Töchter) Informationsmaterial an die Hand gegeben werden sollte, um die Unterbringung in einer fremden Stadt zu organisieren. Dabei spielte der Hospizgedanke, in dessen Zentrum die Beherbergung von Reisenden stand, eine wichtige Rolle.

Als Aufgabe christlicher Nächstenliebe und in Ergänzung zur evangelischen Heimatfremdenfürsorge hatten sich die Hospize bis zur Wende zum 20. Jahrhundert zu einem speziellen Typ von Gasthäusern entwickelt, die sich 1904 im „Verband christlicher Hospize“ zusammenschlossen. Voraussetzung für die Aufnahme in den Verband waren eine christliche Hausordnung, Andachten für Personal und Gäste, die soziale Behandlung des Personals, mäßige Preise und oft auch der Verzicht auf das Angebot alkoholischer Getränke. Außerdem wurde in den Hospizen von den Gästen kein Trinkgeld erwartet, weil dieses bereits in der Tagesrechnung inkludiert war. So konnten die Beherbergungsgäste die Kosten für ihren Aufenthalt besser kalkulieren. Betreiber der Hospize waren meist die Innere Mission, freie Vereine oder einzelne (evangelische) Kirchengemeinden.

Auf den Seiten 24 bis 26 des Reisehandbuchs sind Hospize in Westfalen aufgeführt. (Foto: Cantauw)

Im Reisehandbuch werden die Hospize, Vereinshäuser, Erholungsorte, Pensionen in Deutschland und den „Außerdeutsche[n] Länder[n]“ einzeln vorgestellt. Die Hospize der Provinz Westfalen sind auf den Seiten 24 bis 26 gelistet. Von Altena bis Witten offerierten insgesamt 25 Häuser christlichen Reisenden eine kostengünstige Unterkunft. Sofern Preise genannt werden, bewegen sie sich pro Übernachtung zwischen 50 Pfennig und 2,25 Mark. Für Pension – also die Verpflegung – wurden zusätzliche Kosten in Höhe von etwa 1,50 Mark bis 4,- Mark am Tag berechnet. Zum „Evangelischen Vereinshaus mit Hospiz“ in Bielefeld heißt es beispielsweise: „10 Min. vom Bahnhof, Haltestelle der Straßenbahn. Zimmer von 0,50 – 1,50 M. Pension nach Uebereinkunft. Besonders auch alleinstehenden Damen zu empfehlen. Verwaltung: Wwe. Aug. Griemert“ (S. 24).

Auch andere Häuser warben mit der Nähe zum Bahnhof. Das war besonders für Durchreisende von Interesse. Die „Verwaltung“, „Leitung“ oder ein „Hausvater“/eine „Hausmutter“ werden im Handbuch immer namentlich genannt. Das schuf gerade bei allein reisenden Frauen Vertrauen, zumal dann, wenn eine Frau diesen Posten innehatte.

Viele Hospize warben mit einer Nähe zum Bahnhof. Das machte sie gerade für Durchreisende interessant, die sich eine sichere Unterkunft wünschten. Foto: Cantauw)

Auf die gesellschaftlich so empfundene besondere Gefährdung allein reisender Frauen hatte man seit den 1890er Jahren bereits mit der Einrichtung eigener Zugabteile reagiert. Vorschrift war, dass in jedem Zug „mindestens je eine Frauenabteilung für die Reisenden der zweiten und dritten Wagenklasse vorhanden sein“ (S. 119) musste. Auch auf einigen Passagierschiffen gab es für längere Überfahrten Sektionen, die Frauen vorbehalten waren. Wie hoch man die Gefährdung von Frauen, die sich unbegleitet im öffentlichen Raum bewegten, einschätzte, zeigt auch die Gründung der Bahnhofsmission 1894, die unter dem Label „Gefährdetenfürsorge“ reisenden Frauen und Mädchen Hilfe anbot. Ständige katholische und evangelische Bahnhofsmissionen gab es 1910 bereits an insgesamt 29 deutschen Bahnhöfen.  

Diese Hilfsangebote entstanden vor dem Hintergrund, dass um die Wende zum 20. Jahrhundert viele Frauen und Mädchen vom Land in die wachsenden Industriestädte strömten. Hier suchten sie eine Anstellung als Dienstmädchen in einem bürgerlichen Haushalt, als Fabrikarbeiterin, als Telefonistin oder als Schreibkraft in einem Büro. Nicht wenige unerfahrene naive junge Frauen wurden schon am Bahnhof leichte Beute für unseriöse „Stellenvermittler“, die ihnen guten Verdienst versprachen, sie dann aber nicht in einen Haushalt oder eine Fabrik, sondern an ein Bordell vermittelten. Dagegen ging man um 1900 vielerorts in Europa mit Hilfsangeboten wie der Abholung durch Frauen am Bahnsteig oder durch Vermittlungsangebote der Bahnhofsmissionen vor.

Die Hospize reagierten darüber hinaus auf eine weitere negative Seite der Hochindustrialisierung und der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit: Sie wollten der zunehmenden gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht nur der Männer, sondern auch der „alleinstehenden Lehrerinnen, Erzieherinnen, Krankenpflegerinnen, Angehörigen der Lehrer und überhaupt Damen, welche infolge anstrengender Berufsarbeit in Schule, Familie oder irgendeinem Lebensberuf erschöpft und erholungsbedürftig geworden“ sind, entgegenwirken – so beispielsweise die Beschreibung der Zielsetzung des Erholungshauses Völlinghausen an der Möhne (S. 87).

Erholung sollte um die Wende zum 20. Jahrhundert nicht mehr ausschließlich den Wohlhabenden vorbehalten bleiben, sondern beispielsweise auch „wenig bemittelten Damen“ zugutekommen, denen „innerhalb einer Familiencharakter tragenden Häuslichkeit unter Aufwendung geringer Mittel“ (S. 87) körperliche und/oder geistige Regeneration versprochen wurden. Das galt auch für Aufenthalte an der Nord- und Ostsee, beispielsweise auf der nordfriesischen Insel Amrum, wo „das christliche Seehospiz […] Badegästen, welchen Stille und christliche Hausordnung Bedürfnis sind, eine geeignete Erholungsstätte“ bot (S. 49), oder auf Rügen, wo “Binz […] seiner herrlichen Wälder und seines prachtvollen Strandes wegen allen Erholungsbedürftigen nicht warm genug empfohlen werden“ konnte (S. 52). Das Seebad Binz hatte allerdings seinen Preis, der mit vier Mark pro Tag für die Beköstigung und weiteren Kosten für die Unterbringung für weniger Bemittelte aus der Arbeiterschaft oder Angestellte der unteren Gehaltsklassen nicht in Frage kam. Ein wenig preisgünstiger war es da schon im Hospiz des Klosters Loccum auf Langeoog, weil die „Preise im Hospiz […] so festgesetzt [waren], daß nur die dem Kloster durch Einrichtung und Unterhaltung entstehenden Selbstkosten dadurch gedeckt werden.“ (S. 72). So mussten die Reisenden hier nur – je nach Komfort des Zimmers – zwischen drei und 18 Mark pro Woche entrichten. Für die Vollverpflegung verlangte man weitere 25 Mark, so dass man bei geringen Ansprüchen an die Unterbringung in Mehrbettzimmer oder Mansarde mit insgesamt 28 Mark für Kost und Logis in der Woche auskommen konnte.

Die Angebote der christlichen Hospize für Erholungssuchende waren um 1900 nicht singulär. Auch Krankenversicherungen wie der „Lehrerinnen-Krankenverein Hannover-Linden“ oder die „Gesellschaft für Kaufmannserholungsheime“ schufen Erholungsstätten für Berufstätige – vorzugsweise für solche, die in der Invalidenversicherung „klebepflichtig“ waren. Daneben wurden auch im Zuge von Wohltätigkeitsprojekten Erholungsheime für Arbeiter gebaut, beispielsweise auf Initiative des Elberfelder Bankiers August von der Heydt (1851–1929). Trotzdem hatten nur wenige Erholungsbedürftige die Möglichkeit, eine oder gar mehrere Wochen in einem der Heime zu verbringen. Das lag nicht nur an den Kosten für Unterbringung und Pension, sondern auch daran, dass den meisten Erwerbstätigen um 1900 vertraglich gar kein Urlaub zustand. Wenn er überhaupt gewährt wurde, so war der Erholungsurlaub letztlich das Ergebnis eines Belohnungssystems der Arbeitgeber und/oder eine Frage der Wohltätigkeit.     

Eine Ausnahme bildete die Berufsgruppe der Lehrerinnen und Lehrer, die in den Ferien durchaus Reisen zu ihrer Erholung unternehmen konnte. So verwundert es letztlich nicht, dass sie in vielen der Anzeigen besonders angesprochen und mit Verbilligungen gelockt wurde. Lehrer und Lehrerinnen standen – dieser Eindruck bestätigt sich auch anhand weiterer Quellen im Archiv für Alltagskultur – an der Spitze einer neuen demokratischen Reisekultur, die die Erholungsreise im Laufe des 20. Jahrhunderts popularisierte.

 

Quellen und Literatur:

Reisehandbuch für die christliche Familie. Ein Wegweiser durch die Hospize, Pensionen, Erholungsorte, Bäder, Luftkurorte, Sanatorien, Erziehungs- und Unterrichtsanstalten, nebst praktischen Auskünften für Reise und Haus, 7. verbesserte, vermehrte Auflage, Berlin o. J. (Verlag der Buchhandlung der Berliner Stadtmission, Johanniterstraße 6, Berlin)

Jansen, K.: Hospiz. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Tübingen 1959, S. 459.

Kirchhof, Astrid Mignon: Das Dienstfräulein auf dem Bahnhof. Frauen im öffentlichen Raum im Blick der Berliner Bahnhofsmission 1894–1939. Stuttgart 2011.

Niklas, Bruno W.: Soziale Hilfe am Bahnhof. Zur Geschichte der Bahnhofsmission in Deutschland (1894–1960). Freiburg 1994.

Schumacher, Beatrice: Ferien. Interpretationen und Popularisierung eines Bedürfnisses. Schweiz 1890–1950. Basel 2000.