Ungenutzte Werbung oder zerplatzte Träume? Eine ganze Schachtel mit Empfehlungskarten einer Kochfrau aus Nienburg an der Weser

13.05.2022 Niklas Regenbrecht

Bernd Thier

Viele Dinge des früher alltäglichen Lebens oder des wie auch immer definierten Alltags vergangener Zeiten sind heute oft ohne die mit ihnen verbundenen Informationen, von wem sie z. B. wann beauftragt, hergestellt oder verwendet wurden, überliefert. Vor allem wenn sie vollkommen aus dem ehemaligen familiären Umfeld oder dem Sinnzusammenhang gerissen wurden, können sie heute zunächst nur noch als solitäre Antiquitäten oder als nostalgische Objekte betrachte werden. Es kann aber durchaus lohnend sein, sich auch mit solchen Realien intensiver zu beschäftigen. Wiederum ist es dann verwunderlich welche Informationen – ausgehend einzig und allein vom Gegenstand selbst – mithilfe intensiver Recherche noch gewonnen werden können. Ein solches Objekt und der Weg, der am Ende zu spannenden Informationen führte, soll nachfolgend vorgestellt werden.

Schachtel mit Empfehlungskarten.

Eine Schachtel voller Karten

Bei einem Haushaltsauflöser und Trödler in Münster wurde 2013 ein großer Karton mit zusammengeschütteten verschiedenen Nachlässen erworben, in dem sich vor allem „Papierantiquitäten“ im weitesten Sinne befanden: Fotos, Postkarten, Eintrittskarten, Stadtpläne, Flyer, Prospekte, Totenzettel, Heiligenbildchen, Glückwunschkarten, Dokumente und Akten, aber auch Münzen, Orden, Geldscheine und vieles mehr. Eigentlich sollten alle diese – vielfach persönlichen – Dinge im Zusammenhang mit den beauftragten Wohnungsauflösungen, meist nach Sterbefällen, durch die professionellen „Entrümpler“ entsorgt und somit vernichtet werden. Da sich inzwischen aber viele Sammler – und auch Museen – für solche Objekte interessieren und demnach für die Händler etwas Geld damit zu verdienen ist, entgehen manche Nachlässe der vollständigen Vernichtung.

Schachtel mit Empfehlungskarten.

In dem besagten Karton fand sich auch eine kleine alte Schachtel mit einem altrosafarbenen Stülpdeckel mit Blumenmotiven. Darin befinden sich 85 identische Karten aus kräftigem Karton im exakt passenden Format (11,1 x 8,9 cm). Karton und Karten gehörten daher von Beginn an zusammen. Da die Schachtel bis oben hin gefüllt ist, fehlen auch maximal ein bis zwei Karten. Der ursprüngliche Inhalt dürfte daher keine 100 Exemplare betragen haben. Da Druckaufträge damals vermutlich keine so geringe Auflage aufwiesen, könnte es auch weitere Schachteln mit diesen Karten gegeben haben.

Empfehlungskarte Frau Rienäcker.

In eleganter dünner Schreibschrift gedruckt ist folgendes zu lesen:

P.P.

Hierdurch gestatte ich mir, Ihnen meine Dienste als Kochfrau ergebenst anzubieten und halte mich bei vorkommenden Festlichkeiten bestens empfohlen

Frau Rienäcker,

Nordertorstriftsweg 24.

Winzig klein erscheint außerdem die Angabe der Druckerei:
Hoffmann´sche Buchdruckerei, Nienburg, Weser

Die Schachtel, die Art der Schrift und der Formulierungen ermöglichen eine grobe Datierung in die Zeit „um 1900“. Das eine einzelne derartige Werbekarte in einem Nachlass aufgefunden wird, wäre nicht verwunderlich, aber ein ganzer Satz wirft zahlreiche Fragen auf: Warum wurden sie ehemals nicht verteilt? Warum haben sie sich über 100 Jahre lang in dieser Form erhalten? Um welche Art von Werbung handelt es sich eigentlich? Was machte eine Kochfrau damals und wer war Frau Rienäcker?

Nachfolgend sollen zunächst die vorhandenen Informationen zusammengestellt werden:

Detail der Empfehlungskarte.

Die formlose Anrede

Als Anrede des geneigten Kartenempfängers oder vermutlich sogar eher der Kartenempfängerin, finden sich lediglich die Buchstaben „P.P.“, die Abkürzung der lateinischen Floskel „praemissis praemittendis“, was übertragen etwa „unter Weglassung des Vorauszuschickenden“ bedeutet. Dies war seit dem späten 18. Jahrhundert bis teilweise noch zum Beginn des 20. Jahrhunderts die gängige Form der allgemeinen Anrede in Anschreiben, Werbeanzeigen oder Rundschreiben. Diese zwei Buchstaben waren also bereits vor über 200 Jahren eine simple Form des geschlechtsneutralen Grußes. Heute würde man vermutlich nicht einmal mehr das lange gebräuchliche „Sehr geehrte Damen und Herren“ verwenden, sondern das gendergerechte „Sehr geehrte Empfänger*innen“.

Die Druckerei

Winzig klein ist unten auf der Karte die Druckerei angegeben, bei der sie damals gedruckt wurden: Hoffmann´sche Buchdruckerei, Nienburg, Weser.

Die Druckerei J. Hoffmann und Co. wurde 1871 von Julius Hoffmann, der auch Zeitungsverleger war, gründet. Er verstarb am 23. Februar 1895, sein Nachfolger wurde sein Sohn Hermann Hoffmann. Da die Karten in Nienburg an der Weser gedruckt wurden, ist anzunehmen, dass auch die Auftraggeberin, Frau Rienäcker, dort oder in der unmittelbaren Umgebung lebte.

Die Tätigkeiten einer Kochfrau

Die Werbebotschaft der Karte, bei der es sich daher nicht um eine normale Visitenkarte, sondern um eine sogenannte Empfehlungskarte handelt, ist eindeutig: Hierdurch gestatte ich mir, Ihnen meine Dienste als Kochfrau ergebenst anzubieten und halte mich bei vorkommenden Festlichkeiten bestens empfohlen.

Frau Rienäcker wollte also als Kochfrau bei großen Festen – wohl überwiegend im familiären Zusammenhängen – arbeiten. In Lexika des 19. und frühen 20. Jahrhunderts findet sich unter diesem Stichwort die Erläuterung, dass es sich hierbei um stunden- oder tageweise sich verdingende Köchinnen handelt, die z. B. bei Einladungen oder großen Festen, aber auch dauerhaft an Haushaltungsschulen bei der Ausbildung von Hausfrauen und Hauswirtschafterinnen sowie in Armenküchen arbeiteten.

Anders als heute war es noch nicht allgemein üblich, größere Familienfeiern z. B. in Restaurants zu begehen. Oft waren es unverheiratete Frauen, die durch das Kochen bei größeren Festen ihren Lebensunterhalt verdienten. Sie mussten zum einen gut kochen, braten und backen können, aber zum anderen auch sehr gut organisiert sein, weil sie u. a. bei größeren Gesellschaften oder Feiern wie Hochzeiten, Silberhochzeiten, Taufen, runden Geburtstagen, Kommunion oder Konfirmation auch den Einkauf der Lebensmittel zusammen mit der Dame des Hauses vorbereiteten sowie Zeit- und Ablaufpläne erstellten.

Derartige Aufgaben konnten die Hausfrauen oft nicht allein bewältigten, d. h. die engagierte Kochfrau war schon Tage vorher im Haushalt tätig, oft zusammen mit anderen Hausangestellten. Vielfach bekam sie zusätzlich zu einem vorher vereinbarten Honorar während dieser Zeit auch Kost und Logis, d. h. nahm an den Mahlzeiten teil und konnte kostenlos übernachten. In Schlesien und Preußen gab es im 19. Jahrhundert z. B. sehr viele unverheiratete Frauen, die zeitlebens als Wanderköchinnen durch die Gegend reisten.

Kochfrauen kamen immer wieder in neue Haushalte, entdeckten viel Neues, sammelten Erfahrungen und waren Meisterinnen der Improvisation. Ihr männliches Pendant war der Miet- oder Wanderkoch, der anders als ein Privatkoch ebenfalls nicht fest angestellt war, aber ein höheres Prestige genoss und besser bezahlt wurde. Der Dienst einer Kochfrau fiel vom Ansehen her vielfach auch in den Bereich nachbarschaftlicher Hilfsleistung aus Gefälligkeit, auch wenn tatsächlich ein Honorar gezahlt wurde oder die Entlohnung aus einem Trinkgeld der Gäste und der Abgabe der überschüssigen Speisen an die Familie der Köchin bestand.

Die auf der Empfehlungskarte erwähnte Frau Rienäcker war eine verheiratete Ehe- und Hausfrau, sonst hätte sie sich als Fräulein oder Witwe bezeichnet. Viele zum Beispiel zuvor in Haushaltungsschulen ausgebildete Kochfrauen waren verheiratet und durften, brauchten oder sollten daher nicht offiziell arbeiten. Trotzdem erbrachten ihre je nach Bedarf wenigen oder umfangreichen Tätigkeiten gerngesehene Nebeneinkünfte.

Detail der Empfehlungskarte.

Frau Rienäcker

Die Angabe der Druckerei auf der Karte legte bereits eine erste Spur für deren Herkunft aus Nienburg an der Weser. Dort existiert bis heute noch die Adresse Nordertorstriftsweg 24. Eine Anfrage beim Stadtarchiv – Kreisarchiv Stadt Nienburg/Weser mit der Bitte um eine kurze Recherche zum Vornamen von Frau Rienäcker in den örtlichen Adressbüchern aus der Zeit um 1900 erbrachte weitaus mehr Informationen als erwartet.

Patricia Berger teilte mit, dass in den Adressbüchern bei den verheirateten Frauen nur der Vorname des Ehemanns zu finden sei. Laut dem ersten Adressbuch von 1903 wohnte unter der angegebenen Adresse der Zimmerer (Zimmermann) Friedrich Rienäcker. Unter den standesamtlichen Unterlagen im Archiv fanden sich weitere Angaben: Friedrich Rienäcker wurde am 26. August 1868 in Nienburg geboren. Am 8. Dezember 1895 heiratete er in Drakenburg bei Nienburg die dort am 1. September 1865 geborene Minna Oldenstedt. Ihre Tochter (Wilhelmine Sophia) Lina wurde am 7. Oktober 1900 in Nienburg geboren.

Verpasste Werbung oder zerplatze Träume?

Daher wurde die Empfehlungskarte für die Kochfrau Minna Rienäcker vermutlich frühestens 1896 in Auftrag gegeben. Nach der Geburt der Tochter 1900 dürfte sie kaum noch außer Haus gearbeitet haben. Ihre Rolle als Mutter könnte daher auch der Grund dafür sein, dass Minna die Empfehlungskarten nicht mehr verteilt hat oder verteilen konnte. Ob es zuvor weitere Schachteln gab, deren Karten ausgegeben wurden und ob sie überhaupt und wie lange nach ihrer Heirat als Kochfrau gearbeitet hat, lässt sich heute nicht mehr feststellen.

Die anfänglich grob geschätzte Datierung der Karten in die Zeit „um 1900“ lässt sich nun vermutlich in den Zeitraum 1896 bis 1900 präzisieren. Derartige aufwändige Empfehlungskarten wurden nicht wie heutige „Streuartikel“ großzügig verteilt, sondern gingen nur von Hand zu Hand, wurden z.B. in dem Haushalt, in dem man einmal tätig war hinterlassen, in der Hoffnung, dass die Frau des Hauses die Köchin auch Bekannten, Freunden, Nachbarn oder Verwandten empfahl. Die Übergabe war daher immer auch mit der persönlichen Empfehlung einer Person verbunden, die bereits gute Erfahrungen mit der Kochfrau gemacht hatte.

Warum hat Minna Rienäcker aber eine ganze Schachtel voller Empfehlungskarten, mit denen sie ja offensichtlich Werbung für ihre Kochkünste machen wollte, aufgehoben? Hatte sie die Hoffnung später einmal die Tätigkeit (wieder) aufzunehmen und die Karten dann einzusetzen?

Waren sie vielleicht ein Erinnerungsobjekt an schöne Zeiten, in denen sie als Kochfrau frei arbeiten konnte, an eine große Hoffnung teilweiser Selbstständigkeit, oder nur ein Relikt zerplatzter Chancen und Träume?  

Von Nienburg nach Münster

Die Schachtel mit den Karten aus Nienburg trat ca. 110 Jahre später bei einer Haushaltsauflösung in Münster in Westfalen zutage. Kein anderes Dokument oder Objekt in dem Karton mit diversen Dingen verschiedener Familien ließ sich der Familie Rienäcker oder dem Ort Nienburg an der Weser eindeutig zuweisen. Hier könnte daher die Recherche eigentlich beendet sein, aber vielfach spielt auch der Zufall eine Rolle. Die Archivarin aus Nienburg verband mit der Adresse Nordertorstriftweg 24 eine persönliche Beziehung, denn dort wohnen gute Bekannte von ihr. So ließ sich ermitteln, dass Lina, die Tochter von Minna und Friedrich Rienäcker, 1900 in Nienburg geboren, später den Bauunternehmer Heinrich Friedrich August Twachtmann (gest. 1970) heiratete und in den 1920er Jahren nach Münster zog, wo sie erst 1987 im hohen Alter verstarb. Lina war wiederum die Großmutter der Bekannten der Archivarin aus Nienburg. Nun schließt sich der Kreis.

In dem 2013 erworbenen besagten Karton waren zahlreiche Fotos und Postkarten der Familie Twachtmann, darunter war auch die Schachtel mit den Empfehlungskarten, ohne dass sich ein Zusammenhang ergeben hätte. Lina Twachtmann hat daher die Schachtel mit den Karten ihrer Mutter aus Nienburg mit nach Münster genommen, sorgsam verwahrt und wiederum weitervererbt, so dass sie erst 2013 beinahe entsorgt worden wäre. Der damals erworbene kleine Nachlass der Familie Twachtmann ist nun wieder zurück im Familienbesitz in Nienburg, darunter auch verschollene Familienfotos.

Ein „belangloses Objekt“ des Alltags?

Die 2013 aufgefundene Schachtel war der Ausgangspunkt für Recherchen zu einem zunächst unscheinbaren oder vielleicht auch belanglosen Objekt der Alltagskultur. Es zeigte sich aber, dass die Empfehlungskarten eine Art Erinnerungsspeicher oder mehrdimensionaler Schlüssel sind. Längst vergessene Alltage können durch sie „erschlossen“ werden. Sie sind ein Beleg für bestimmte Anredeformen, Werbemaßnahmen, Berufe und Nebentätigkeiten und erinnern an das Leben derjenigen, die nicht oder nur am Rande in historischen Quellen vorkommen.

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