Die Erinnerungsscheine zum Zweiten Westerkappelner Heimattag 1922

29.07.2022 Peter Herschlein

Der Erinnerungsschein zu 50 Pfennig mit einer Abbildung der Sloopsteene.

Peter Herschlein

Ursprünglich als Zahlungsmittel in Krisenzeiten gedacht, entwickelten sich Notgeldscheine zwischen 1919 und 1922 immer mehr zu Sammelobjekten, womit die Funktion als Zahlungsmittel in den Hintergrund rückte. Die immer ausgefeilter gestalteten Scheine zeigten häufig regionale Motive wie Gebäude oder charakteristische Landschaftsbestandteile. Des Weiteren finden sich Abbildungen von Persönlichkeiten oder Darstellungen aus der Sagenwelt. Diese Motive geben dabei Einiges über die Motive der Herausgeber der Scheine preis. Zur Entwicklung der Notgeldproduktion wurde bereits ein Beitrag auf diesem Blog veröffentlicht, der hier nochmal nachgelesen werden kann.

In diesen Zeitraum fallen auch die fünf Erinnerungsscheine (fälschlicherweise auch Notgeldscheine genannt) aus Westerkappeln, die 1922 anlässlich des zweiten Heimattages vom „Verein für Heimatkunde Westerkappeln“ herausgegeben wurden.  Gestalterisch lehnen sich die Erinnerungsscheine durchaus an die Notgeldscheine an. Sie waren jedoch nicht als Zahlungsmittel gedacht, sondern dienten beispielsweise der Bewerbung der Vereinsarbeit und der Verankerung bestimmter Erinnerungsorte im kulturellen Gedächtnis.

Der Westerkappelner Heimatverein geht auf eine Gruppe mit dem Namen „Die Hüter der Sloopsteine“ zurück, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, altertumskundliche Überlieferungen und Naturdenkmäler zu erhalten.  Der Name der Gruppierung verweist auf das jungsteinzeitliche Megalithgrab „Sloopsteine“ auf dem Gabelin. Mitglied der Gruppe war auch Friedrich Rohlmann  (1889-1943, Lehrer aus Westerkappeln-Velpe), der den Vorsitz des 1919 neu gegründeten „Verein für Heimatkunde Westercappeln“ (heute: Kultur- und Heimatverein Westerkappeln e. V.) übernahm. Friedrich Rohlmann engagierte sich auch über das Gemeindegebiet hinaus als Kreisheimatpfleger im Bereich der Heimatforschung.

Die Gründung des „Verein für Heimatkunde Westercappeln“ fällt damit in einen Zeitraum ab den 1870er Jahren, in dem sich auf lokaler Ebene Heimatvereine als Vereinigungen interessierter Laien bildeten. Diese Vereine gründeten sich vor allem auf dem Land, wo die Einwohnerzahl für die Gründung spezialisierter Wissenschaftsvereine nicht ausreichend war. Das Tätigkeitsfeld der Gruppierungen war breit gefächert, so machten sie es sich zur Aufgabe, die materielle Kultur,die mündliche Überlieferunge oder Informationen über Bräuche und Flurnamen zusammenzutragen. Zudem beschäftigte man sich mit der Verschönerung des Ortsbildes sowie der Erhaltung von Bau- und Bodendenkmälern. Die Entstehung dieser Heimat(schutz)bewegung liegt in einer Zeit, die von einer fortschreitenden Industrialisierung und Technisierung geprägt war. Wie auch der Name „Die Hüter der Sloopsteine“ zum Ausdruck bringt, setzte man sich in Westerkappeln und anderswo für den Schutz des „Bedrohten“ ein. Als bedroht wurden die „traditionelle“ Bauweise, die Landschaft und die Denkmäler, aber auch die Volkskunst, die regionalsprachlichen Dialekte und das sogenannte Brauchtum angesehen. 

In seiner Anfangszeit veranstaltete der Westerkappelner Verein vor allem Wanderungen, Besichtigungen von Naturdenkmälern und Unterhaltungsabende. Um die Ziele und Betätigungsfelder der Heimatkunde auch in breiten Kreisen der Bevölkerung bekanntzumachen, veranstalte der „Verein für Heimatkunde Westercappeln“ 1921 den ersten Westerkappelner Heimattag. Im folgenden Jahr wurde die Veranstaltung, unter anderem mit einem Festumzug, Ausstellungen über die Leinenindustrie, die heimische Vogelwelt sowie die Imkerei, Wanderungen und vielen weiteren Darbietungen, wiederholt. In einem Festvortrag sprach der Westerkappelner Sanitätsrat Dr. Simon über die Aufgabe der Heimatvereine, die mit der „Erforschung unserer Heimat in ihren natürlichen Bedingungen und ihrer geschichtlichen Entwicklung“, „die Erweckung und Förderung der Liebe zur Heimat und zu unserem Vaterlande“ als Ziel verfolge.

Zur Erinnerung an den zweiten Heimattag gab der Verein fünf Erinnerungsscheine in verschiedenen Wertstufen heraus. Die auf den Scheinen abgedruckte Signatur „HH“ lässt sich dem Maler und Kunsthandwerker Hermann Heinrich Hischemöller (1905 - 1968, aus Westerkappeln) zuordnen. Im Alter von nur 17 Jahren gestaltete er damals die Scheine für den Verein für Heimatkunde. Über diese Arbeit hinaus stellte er sein Können auch für weitere grafische Arbeiten im Dienst der Heimatkunde zur Verfügung. So gestaltete er unter anderem auch Titelblätter für die von Friedrich Rohlmann erstellten Heimatbücher.

Die Motive der in den Wertstufen 50 Pfennig; 1 Mark (2x); 1,75 Mark und 2 Mark herausgegebenen Erinnerungsscheine lassen sich in zwei Kategorien teilen. Zum einem finden sich lokale Denkmäler und zum anderen Motive, die im Zusammenhang mit der Reinhildis-Legende stehen. Zu den Denkmälern gehören die Sloopsteine und die Abbildung eines Stollen-Mundloches. Wie anfangs dargestellt, war die Gründung des „Verein für Heimatkunde Westercappeln“ eng mit den Sloopsteinen als Erinnerungsort verbunden. So hatten sich die „Hüter der Sloopsteine“ unter anderem den Erhalt des Grabes zur Aufgabe gemacht. Die Abbildung des Stollenmundloches nimmt Bezug auf den Steinkohlebergbau auf dem Schafberg. Ab den 1920er Jahren wurde dort in kleineren Pachtgruben Steinkohle gefördert. Dargestellt ist hier das Mundloch der Zeche Anneliese, in der damals bis zu 80 Personen Arbeit fanden.

Der Erinnerungsschein zu 1 Mark mit der Brunnenszene aus der Reinhildis-Legende.

Alle übrigen Motive stehen im Zusammenhang mit der Reinhildis-Legende. In den vergangenen Jahrhunderten war sie wiederholt Ausgangspunkt für Erzählungen und Forschungen. Über Jahrhunderte wurde die Legende mündlich weitergegeben, sodass sie heute in unterschiedlichen Fassungen überliefert ist. Die Legende lässt sich erstmals 1629 im Hausbuch des Sweder von Schele (1569-1639) nachweisen. Die bekannteste Version der Erzählung lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Dieser Schein zu 1 Mark zeigt mit dem pflügenden Engel eine weitere Szene aus der Reinhildislegende.

Der Erzählung nach soll Reinhildis auf dem Knüppenhof in der Bauerschaft Düte gelebt haben. Statt wie von ihren Eltern beauftragt den Acker zu pflügen besuchte sie den Gottesdienst in der Kirche. In dieser Zeit übernahmen Engel die Arbeit auf dem Feld. Ihre Mutter war über das Verhalten ihrer Tochter erbost und erdrosselte, vom Stiefvater angestiftet, ihre Tochter. Anschließend warf sie die Leiche in einen Brunnen. Reinhildis stieg allerdings unversehrt wieder aus dem Brunnen empor. Nachdem sie dann ein weiteres Mal von ihrer Mutter getötet worden war, wurde der Leichnam im Stall vergraben. Doch ein hell leuchtender Stern über dem Haus machte auf das Grab aufmerksam. Die Leiche wurde schließlich auf einen Ochsenkarren gelegt und die Ochsen mit dem Karren laufen gelassen. Erst in Riesenbeck kamen die Ochsen zu stehen, wo Reinhildis schließlich bestattet wurde.

Die Nutzung von Reinhildis als lokale Identifikationsfigur lässt sich in Westerkappeln lange Zeit zurückverfolgen. Auf einem Siegelabdruck der „Stadt Cappeln“ vom 10. März 1785 findet sich erstmals eine weibliche Figur mit den Attributen Seerosenblatt und Anker. Mit der Verleihung der Stadtrechte an Westerkappeln im Jahr 1738 dürfte vermutlich die Frage nach der Gestaltung eines Siegels aufgekommen sein. Wann dieses erstellt und erstmals verwendet wurde ist nicht bekannt. Die Gestaltung des Gewandes im Brustbereich zeigt wohl einen Teil der Hausmarke des Knüppenhofes und dürfte als Indiz für die Identität der Frauenfigur als Reinhildis anzusehen sein. Auch die 1796 angeschaffte Stadtfahne ziert ein Wappen mit der Darstellung von Reinhildis. In den späteren Jahrhunderten wurde das Reinhildis-Motiv der Stadtfahne als Vorlage für zahlreiche Vereinsbanner, Fahnen und sonstige Accessoires genutzt.

Dieser Schein zu 2 Mark zeigt den Ochsenkarren auf dem Weg nach Riesenbeck.

Zu ihrem 650. Jahrestag erhielt die Legende um Reinhildis im Jahr 1912 neuen Aufschwung. So wurde am 6. Juli 1912 in Riesenbeck unter großer Beteiligung der Bevölkerung der neue „Reinheldisbrunnen“ eröffnet. Im gleichen Jahr wurde die vom Riesenbecker Vikar August Winkelmann (1881-1954) verfasste Schrift „Sünte Rendel oder St. Reinheldis. Eine Legende und eine Legendenstudie“ veröffentlicht, in der auch ein Beitrag von Karl Wagenfeld über den Knüppenhof abgedruckt ist. In seinem Werk geht August Winkelmann unter anderen auf die verschiedenen Fassungen der Legende ein. Dabei fällt ihm das unterschiedlich stark ausgeprägte Interesse der Bevölkerung an der Legende um Reinhildis auf. In Riesenbeck sei die Erinnerung an die Legende nur solange lebendig gewesen, wie Reinhildis in der dortigen Kirche verehrt worden war. Über Westerkappeln berichtet er hingegen: „In Westerkappeln jedoch, wo sie niemals verehrt wurde, wo die Bevölkerung schon seit 400 Jahren anderen Glauben hat, ist das Interesse bis auf den heutigen Tag bei jung und alt sehr rege.“ Zu den Unterschieden der Legendenerzählung in den beiden Ortschaften führt er aus, dass in Riesenbeck „mehr die Legende von dem erbaulichen, nachahmenswerten Leben der Jungfrau“ verbreitet war, während in Westerkappeln „mehr schreckhafte Sagen und abergläubische Spukgeschichten sich im Volksglauben festsetzten“.

Seit 1958 stellt die heilige Reinhildis die offizielle Wappenfigur der Gemeinde Westerkappeln dar.

Die Rückseite der Erinnerungsscheine zeigt ein Wappen mit Reinhildisdarstellung sowie die Hausmarke des Knüppenhofes.

Auf den Erinnerungsscheinen finden sich die Szenen wie Reinhildis aus dem Brunnen emporsteigt, wie ein Engel in ihrer Abwesenheit den Acker pflügt. Auch der Ochsenkarren mit ihrem Sarg ist verbildlicht worden. Auf der Rückseite der Erinnerungsscheine findet sich eine Abbildung des alten Wappens der Stadt Cappeln mit einer Reinhildis-Darstellung. Auch die Symbole links und rechts des Wappens stehen mit der Reinhildis-Legende in Zusammenhang. Es handelt sich um die Hausmarke des Knüppenhofes.

Das Foto zeigt einen als Wodan verkleideten Teilnehmer des Festzuges zum 2. Westerkappelner Heimattag 1922.

Auf den Erinnerungsscheinen sind verschiedene plattdeutsche Sprüche zu lesen. Beispielhaft sei hier der Text unter der Abbildung der Sloopsteine wiedergegeben: 

De Sloopsteene. Vör fiefuntwintigdusend Johr / De graute Sliephark in de Hand kam Wodan hiär ut Norderland. / Hei harkede ollens kuort un kleen van Island bes an’n Herkensteen. /Hier brök de Harken em utenneene, dau löt hei liggen düsse Steene.

(Übersetzung: „Die Sloopsteine. Vor fünfundzwanzigtausend Jahren / Die große Schleppharke in der Hand kam Wodan hierher aus dem Norderland. / Er harkte alles kurz und klein von Island bis an den Herkenstein. / Hier brach die Harke ihm auseinander, da ließ er liegen diese Steine.“)

Die Erklärung für die Entstehung der Grabanlage entspricht durchaus anderen Ortssagen, die den Ursprung auffälliger geologischer Formationen oder baulicher Besonderheiten mit germanischen Gottheiten, historischen Figuren oder sagenhaften Gestalten (beispielsweise dem Teufel) in Zusammenhang bringen. Die Sage wurde offenbar örtlich als so bekannt vorausgesetzt, dass man sie während des Heimattages 1922 durch einen als Wodan verkleideten Teilnehmer des Festzuges in Szene setzen konnte.

Alle Texte auf den Erinnerungsscheinen wurden von Karl Wagenfeld (* 5. April 1869 in Lüdinghausen; † 19. Dezember 1939 in Münster) verfasst. Dieser war als Lehrer, Dichter und Vorsitzender des Plattdeutschen Vereins tätig. Im Jahr 1922 übernahm er die Geschäftsführung des Westfälischen Heimatbundes in Münster.

Abschließend lässt sich feststellen, dass über die Motive auf den Erinnerungsscheinen das Heimatbild der dahinterstehenden Personen popularisiert wurde. Das dabei hervorgebrachte Bild fußt im Kern auf der Legende von Reinhildis und der Wodansage. Durch einen als Wodan verkleideten Teilnehmer des Festzuges wurde die Sage auch bei der Programmgestaltung des Heimattages einbezogen und fand so Eingang in die lokale Geschichtskultur. Gleichzeitig sind die Erinnerungsscheine ein Zeugnis der auch in Westfalen aufkeimenden Heimatbewegung, die sich ab den 1870er Jahren in den Gründungen von zahlreichen Heimatvereinen widerspiegelt.

 

Literatur und Quellen:

Ditt, Karl (2001): Die westfälische Heimatbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen Nationalismus und Regionalismus. Heimatpflege in Westfalen 14. Jg./2. S. 2-11.

Rohlmann, Friedrich (1922): Heimatbuch 1922. (Aufbewahrt im Archiv des Kultur- und Heimatverein Westerkappeln e. V.).

Schröer, Heinz (2008): Begegnungen mit Reinhildis. Gesichter einer Legende.

Schröer, Heinz (2009): Heimatbewegung zwischen den Weltkriegen. Unser Kreis 2009. Jahrbuch für den Kreis Steinfurt. S. 28-31.

Schierhold, Kerstin (2017): Die großen Sloopsteene bei Lotte-Wersen, Kreis Steinfurt.

Spannhoff, Christoff (2018): Rätsel der Ortsgeschichte gelöst. Vor 280 Jahren wurde Westerkappeln zur Stadt erhoben. Westfälische Nachrichten, 12.04.2018. Online unter: https://www.wn.de/muensterland/kreis-steinfurt/westerkappeln/ratsel-der-ortsgeschichte-gelost-1306282

Spannhoff, Christof (2019): Wie kam die Kirche ins Dorf? Überlegungen zur Kirchengründung in Riesenbeck und zum Ursprung der Reinhildis-Legende. Online unter: https://christofspannhoff.wordpress.com/2019/07/17/wie-kam-die-kirche-ins-dorf/

Winkelmann, August (1912): Sünte Rendel oder St. Reinheldis. Eine Legende und Legendenstudie.

 

Abbildungsnachweis:

Archiv Kultur- und Heimatverein Westerkappeln e.V. / Repros: Heinz Schröer.

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