„Erzähl mal…“ Ein Geschichtslabor zur Spurensuche in der NS-Familienbiografie

29.09.2023 Marcel Brüntrup

Mitarbeiter des Befehlshabers der Ordnungspolizei posieren für ein Gruppenfoto vor der Villa (Foto: Villa ten Hompel)

Annina Hofferberth & Karolin Baumann

Im Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster, einem ehemaligen Dienstgebäude der Ordnungspolizei im Nationalsozialismus, beschäftigen sich Mitarbeitende regelmäßig bei Thementagen, Führungen, Publikationen oder Vorträgen mit den Biografien der Täter, die dort einst gearbeitet haben. Die eigenen Familiengeschichten blieben lange außen vor, obwohl uns natürlich klar war, dass es auch hier die unterschiedlichsten Verstrickungen mit dem nationalsozialistischen System gegeben hat. Seit Februar 2023 setzen sich Mitarbeitende und Ehrenamtliche daher mit den eigenen Vorfahren und deren Rollen im NS-Regime auseinander und unterstützen interessierte Bürger:innen bei ihren Recherchen. Die Erkenntnisse mündeten in Blogbeiträgen, die auf der Website des Geschichtsorts Villa ten Hompel veröffentlicht wurden. 2024 wird das von Annina Hofferberth und Karolin Baumann geleitete Projekt ausgeweitet.

Ein Ausgangspunkt des Geschichtslabors waren die MEMO-Studien, in denen das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und die Stiftung  Erinnerung, Verantwortung und Zukunft die in Deutschland etablierte Erinnerungskultur mit Schwerpunkt auf den Nationalsozialismus in mehreren repräsentativen Umfragen statistisch erfassten. Viele Befragte sehen die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als wichtig an, die Familiengeschichte gehört für über die Hälfte von ihnen zur deutschen Erinnerungskultur. Doch nur wenige Befragte haben sich eingehend mit der Rolle ihrer Familie im NS beschäftigt. Etwa 70 Prozent verorteten ihre Vorfahren nicht unter den NS-Täter:innen, knapp 29 Prozent der Befragten gaben sogar an, dass Familienmitglieder Verfolgten des NS-Regimes aktiv geholfen hätten – Schätzungen der EVZ zufolge trifft dies aber tatsächlich auf weit weniger als ein Prozent der Bevölkerung zu. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte könnte also einen individuellen Zugang zur NS-Zeit und dessen Vor- wie Nachgeschichte bieten und manches gerade rücken helfen, wenn es um die eigenen Eltern oder (Ur)Großeltern geht, die Täter:innen, Mitläufer:innen oder Verfolgte während der NS-Zeit waren.

Familiengeschichtliche Unterlagen in Form von Feldpost und Fotografien (Foto: Villa ten Hompel)

In den Auseinandersetzungen mit den Familiengeschichten, die in den Blogbeiträgen dargestellt werden, zeigte sich, dass sich alle Autor:innen mit ähnlichen Fragen konfrontiert sahen, zum Beispiel damit, wie genau die eigenen Vorfahren in ihrem Verhalten nun zu benennen seien. Auf den Punkt gebracht: War Opa ein Nazi? Diejenigen, die über die Großeltern oder sogar Urgroßeltern schrieben, fanden wesentlich klarere Benennungen (so zum Beispiel eine Mitarbeiterin: „Ich bin Nazi-Nachfahrin und das kann so stehenbleiben, es gibt keine Erlösung, aber eine Verantwortung, die ich jetzt noch deutlicher spüre.“). Diejenigen, die hingegen über die eigenen Väter schrieben, taten sich damit schwerer. So formuliert eine Autorin angesichts des Polizeibataillonsdienstes ihres Vaters die Einschätzung als Frage: „War er also ein Nazi – jedenfalls wird es von den Einheiten gesagt, in denen er kämpfte? Hat er sich aktiv schuldig gemacht in der „Partisanenbekämpfung“, hat er wie ein Nazi gehandelt?“ Außerdem zeigt sich, dass auch die Kategorie Gender in den Beiträgen implizit eine Rolle spielt: Die meisten thematisierten zunächst männliche Verwandte, Formen der Beteiligung von Frauen aus der eigenen Familie gerieten eher aus dem Blick und mussten erst einmal bewusst gemacht werden. Und auch die Unabschließbarkeit solcher Recherchen wurde zum Thema: Wie dicht kann man überhaupt an die historische Person und ihre Beweggründe herankommen? Wann gibt man sich mit den Erkenntnissen zufrieden? Wie geht man mit den offen gebliebenen Fragen um?

Recherchen im Rahmen von 'Erzähl mal...Spurensuche in der NS-Familiengeschichte' (Foto: Villa ten Hompel)

Wegen des großen Zuspruchs ist nun für 2024 geplant, das Projekt auf eine breitere Basis zu stellen. In einer Workshopreihe sollen mehr Bürger:innen die Möglichkeit bekommen, Anleitungen für die Recherche in Archiven und in den eigenen Unterlagen zu erhalten, offene Fragen gemeinsam zu diskutieren und in einer abschließenden Veranstaltung ihre Erkenntnisse zu präsentieren. Begleitet wird die Reihe von einem familiengeschichtlichen Schwerpunkt in den Abendveranstaltungen des Geschichtsorts Villa ten Hompel.