Evangelisch im Münsterland – Burgsteinfurt

24.05.2022 Niklas Regenbrecht

Konfirmationsfeier in der Großen Evangelischen Kirche.

Andreas Eiynck

Die Grafen von Steinfurt waren im Mittelalter treue Vasallen der Bischöfe von Münster. Das änderte sich unter Graf Arnold II. (1497-1553) von Bentheim und Steinfurt grundlegend, denn unter dem Einfluss seiner Frau Walburga von Brederode (1512-1567) schloss er sich 1544 der Reformation Luthers an. Da seine Untertanen sich dem Religionswechsel anzuschließen hatten, wurde die Grafschaft Steinfurt eine protestantische Enklave im katholischen Münsterland.

Allerdings befand sich die Pfarrkirche in Burgsteinfurt, die „Große Kirche“, im Besitz des Johanniterordens und blieb der neuen lutherischen Gemeinde einstweilen verschlossen. Die Lutheraner mussten sich daher zunächst mit einer kleinen Kapelle in der Stadt, der „Kleinen Kirche“, begnügen.

Frau aus Hollich in Bentheimer Tracht.

1561 heiratete Graf Arnold III. (1538-1566) eine Tochter des mächtigen Herzogs von Braunschweig-Lüneburg und konnte mit dieser Verwandtschaft im Rücken bald mutiger auftreten. Am 25. Januar 1564, dem symbolträchtigen Fest Pauli Bekehrung, ergriffen die Protestanten Besitz von der Großen Kirche, die fortan dem evangelischen Gottesdienst diente. Dieser Tag wird ein Steinfurt bis heute als „Steinfurter Reformationsfest“ gefeiert – die Katholiken kennen den Tag als „Steinfurter Räuberfest“.

Unter Graf Arnold IV. (1554-1616) wechselten das gräfliche Haus und gleichzeitig alle ihm unterstehenden Territorien zum reformierten Bekenntnis. Stadt und Grafschaft Steinfurt wurden zu einem Vorposten des Calvinismus im Münsterland. Damals liebäugelten im Münsterland besonders in den Städten viele Menschen mit dem reformierten Bekenntnis. Auf Druck des Bischofs mussten sie das Land verlassen und viele von ihnen fanden Zuflucht in Burgsteinfurt. So entstand ein starker Bauboom, der im Stadtbild bis heute erkennbar ist.

Gerahmte Grabrede aus einem Bauernhaus in Hollich.

Die Große Kirche wurde im Sinne des Calvinismus von allem Bilderschmuck „gereinigt“ und für den äußerlich schlichten reformierten Kultus eingerichtet. Die Grundlagen des Gemeindelebens bildeten nun der Heidelberger Katechismus, die Bentheim-Tecklenburgische Kirchenordnung von 1588 und die Beschlüsse der Dordrechter (1618-1619) Synode.

Für das Alltagsleben der Untertanen in der Grafschaft Steinfurt hatte die Reformation durchgreifende Folgen.

Im Zeitalter der Gegenreformation schotteten sich die Grafschaft Steinfurt mit den drei Bauerschaften Hollich, Sellen und Veltrup von den umliegenden katholischen Kirchspielen ab. Heiraten in die katholischen Nachbarorte wurden immer seltener und kamen schließlich kaum noch vor. Fanden die Bauernsöhne vor Ort keine passende Ehepartnerin, dann hielten sie Ausschau in den umliegenden protestantischen Territorien. Dies waren die Grafschaften Bentheim und Tecklenburg. Am nächsten zur Grafschaft Steinfurt lagen dabei die Orte Ohne im Bentheimischen und Ladbergen im Tecklenburgischen, die von Steinfurt aus fußläufig noch gut zu erreichen waren.

Fromme Sprüche das Heiligenbilder - gerahmtes Spruchbild aus einem Bauernhaus in Hollich.

Die Abschottung der drei Steinfurter Bauerschaften Sellen, Veltrup und Hollich von ihrem Umland führte zu zahlreichen Besonderheiten in Brauchtum, Kleidung, Repräsentationskultur und religiöser Ausstattung von Haus und Hof. Hofkreuze und Marienklusen (Marienkapellchen) sucht man im Kirchspiel Steinfurt vergebens. Kruzifixe, Marienbilder und Rosenkränze findet man in keinem evangelischen Haushalt, stattdessen Konfirmations- und Hochzeitssprüche sowie Eheurkunden und Leichenpredigten als gerahmter Wandschmuck. Während im katholischen Münsterland eine Bibel im Haus nicht üblich war, besaß jede Steinfurter Familie eine Hausbibel, meistens in der Übersetzung von Martin Luther in hochdeutscher Sprache. Oft wurden diese Bibeln über Generationen in einer Familie weitergegeben und enthalten häufig auch eine Familienchronik, die handschriftlich auf unbedruckten Seiten am Anfang oder Ende geführt wurde.

Bauernfamilie aus Hollich, die alte Frau in Bentheimer Tracht.

Die roten Röcke, bunten Schultertücher und goldbestickten Hauben der münsterländer Bauerntracht waren in Steinfurt nicht akzeptabel. Schon Paul Sartori bemerkte 1922 in seiner „Westfälischen Volksunde“: „Die Steinfurter, besonders die Hollicher Bauern, sind seit langer Zeit auch in der Tracht mit den Bentheimern zusammengegangen; die weißen Hauben der Frauen, Kniehose, Dreispitze („Lampe“) und Peirock sind in Hollich erst seit kürzerem verschwunden. Die Tracht ist einfach und dürftig und nicht ohne Reiz.“ (S. 37)

Hausbibel einer Bauernfamilie in Sellen, Lutherbild, Kassel 1753.

Die Feste und Bräuche in den drei Steinfurter Bauerschaften waren bis zur Reformation völlig identisch mit denen im katholischen Münsterland. Fastnacht und Schützenfest bildeten die Hauptfeste im Jahreslauf. Hinzu kamen die großen Bauernhochzeiten, die in Hollich, Sellen und Veltrup bis weit in das 19. Jahrhundert als Gebehochzeiten gefeiert wurden. Taufen und Beerdigungen blieben auch nach der Reformation wichtige Ereignisse für die Gemeinschaftskultur. Anstelle der festlich begangenen Erstkommunion feierte man die Konfirmation. Die Firmungen fielen selbstverständlich weg, denn die reformierte Kirche kennt ja nur zwei Sakramente: die Taufe und das Abendmahl.

Wandbild mit Sprüchen in einem Bauernhaus in Sellen.

Dem traditonsbewußten Schützenwesen konnte auch die calvinistische Reformation nichts anhaben, zumal das gräfliche Haus das Schützenwesen aktiv unterstützte. So sind die Schützenvereine Hollich und Sellen-Veltrup bis heute die tragenden Säulen der Gemeinschaftskultur in den Steinfurter Bauerschaften.

Die reformierte Geistlichkeit richtete ihr Augenmerk vor allem auf das Fastnachtstreiben in Stadt und Land. Immer wieder wetterten die calvinistischen Prediger zu Aschermittwoch gegen die Heischeumzüge („Eier- und Mettwurstsammeln“) sowie die Ausschweifungen und den übermäßigen Alkoholgenuss an den Festtagen. Freilich bis heute erfolglos, denn auch die Burgsteinfurter sind ja letztlich waschechte Münsterländer. Nur eben evangelisch.

Wandbilder im Museum Sellener Landschule, Wohnzimmer.

Letztlich war es sogar die Reformierte Kirche selber, die die Burgsteinfurter Bauernfastnacht weit über den Ort hinaus bekannt und populär machte. Denn durch ihre Ablehnung der Gregorianischen Kalenderreform fiel die Fastnacht in Burgsteinfurt auf den Termin der „Alten Fastnacht“ eine Woche nach der „katholischen“ Fastnacht entsprechend der gregorianischen Zeitrechnung. Während also das ganze Münsterland pünktlich ab Aschermittwoch in eine Zeit des Fastens und der Abstinenz eintauchte, durfte in Burgsteinfurt und seinen Bauerschaften eine Woche später noch ausschweifend gefeiert werden. Das blieb auch den Bewohnern der umliegenden katholischen Kirchspiele nicht verborgen. Und – Ordnung muss sein – wo etwas nicht verboten ist, da kann die Teilnahme auch keine Sünde sein. Oder jedenfalls nur eine lässliche. So entwickelte sich mit wachsender Mobilität der Landbevölkerung die Bauernfastnacht in Hollich und Sellen zu einem Volksfest für das ganze nördliche Münsterland. Und da die reformierte Kirchengemeinde hierbei selbstredend keine tragende Funktion übernehmen konnte, übernahmen die Schützenverein Sellen-Veltrup und Hollich diese Aufgabe und organisieren nicht nur das jährliche Schützenfest, sondern auch das Fastnachtstreiben.

Wandbilder im Museum Sellener Schule, Schlafzimmer.

Letztlich hatte die Steinfurter Reformation auch starken Einfluss auf das politische Geschehen und das Wahlverhalten im 19. und 20. Jahrhundert. Nicht zuletzt durch den „Kulturkampf“ war das Verhältnis der Katholiken zum Preußischen Staat nachhaltig gestört und das katholische Münsterland war eine Domäne der Katholischen Zentrumspartei. Für Protestanten war diese Partei aufgrund ihrer dezidiert katholischen Ausrichtung nicht wählbar. So entwickelte sich Steinfurt zunächst zu einer Hochburg der nationalliberalen Parteien. In den 30er-Jahren wurden Stadt und Amt Steinfurt dann zur Hochburg des Nationalsozialismus und galten als der „braune Fleck“ im „schwarzen Münsterland“. So wirkte das Zeitalter der Konfessionalisierung mit seinen Folgen bis weit in das 20. Jahrhundert.

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Schlagworte: Andreas Eiynck · Brauch