Birgit Frosch
Dass biografische Quellen der Historiographie ganz eigene Sichtweisen und Facetten hinzufügen können, belegt eine Veröffentlichung von Renate Müller-Martens über die Geschichte ihrer Vorfahren.
Im Mittelpunkt dieser Familiengeschichte stehen die Großeltern der Autorin, das Ehepaar Heinrich und Elisabeth Müller. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden in Form einer dichten Beschreibung anschaulich geschildert. Da das Paar und seine Söhne Heinz und Kurt Müller neben den aktuellen familiären, politischen und wirtschaftlichen Ereignissen auch Glaubensfragen intensiv in ihren Briefen debattierten, eröffnet sich zudem ein Blick auf das katholische Milieu in den Jahren 1910 bis 1945 in Ostwestfalen und in Kassel, wo Heinrich Müller seit 1919 als Techn. Büroassistent, später als Beamter der Deutschen Reichsbahn beschäftigt war und wo das Paar ab Mai 1920 lebte.
Die Autorin konnte auf einen umfangreichen Familiennachlass zurückgreifen. Dieser besteht aus über 100 Briefen und weiteren persönlichen sowie amtlichen Dokumenten, Festzeitungen und Fotos. Ergänzt werden diese Quellen durch Interviews mit Zeitzeug:innen und die historische Tagespresse.
Auf der Basis von Feldpost können die Ereignisse an der Front und an der Heimatfront nachgezeichnet werden. Der Überfall auf Belgien 1914 und der spätere Stellungskrieg in Belgien und Frankreich finden in den Briefen vielfach Erwähnung. Von der Heimatfront (Briefe von Elisabeth) wird dagegen über Zwangswirtschaft, Lebensmittelknappheit und die hohe Arbeitsbelastung in der Landwirtschaft berichtet. Ein zentrales Thema der Korrespondenz sind auch die unterschiedlichen religiösen Positionen der beiden Liebenden und der heftige Streit, der aus diesen religiösen Differenzen resultierte.