Familienschicksal in zwei Weltkriegen

31.01.2025 Niklas Regenbrecht

Einband, Foto: Heinrich Müller.

Birgit Frosch

Dass biografische Quellen der Historiographie ganz eigene Sichtweisen und Facetten hinzufügen können, belegt eine Veröffentlichung von Renate Müller-Martens über die Geschichte ihrer Vorfahren.

Im Mittelpunkt dieser Familiengeschichte stehen die Großeltern der Autorin, das Ehepaar Heinrich und Elisabeth Müller. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden in Form einer dichten Beschreibung anschaulich geschildert. Da das Paar und seine Söhne Heinz und Kurt Müller neben den aktuellen familiären, politischen und wirtschaftlichen Ereignissen auch Glaubensfragen intensiv in ihren Briefen debattierten, eröffnet sich zudem ein Blick auf das katholische Milieu in den Jahren 1910 bis 1945 in Ostwestfalen und in Kassel, wo Heinrich Müller seit 1919 als Techn. Büroassistent, später als Beamter der Deutschen Reichsbahn beschäftigt war und wo das Paar ab Mai 1920 lebte.

Die Autorin konnte auf einen umfangreichen Familiennachlass zurückgreifen. Dieser besteht aus über 100 Briefen und weiteren persönlichen sowie amtlichen Dokumenten, Festzeitungen und Fotos. Ergänzt werden diese Quellen durch Interviews mit Zeitzeug:innen und die historische Tagespresse.

Auf der Basis von Feldpost können die Ereignisse an der Front und an der Heimatfront nachgezeichnet werden. Der Überfall auf Belgien 1914 und der spätere Stellungskrieg in Belgien und Frankreich finden in den Briefen vielfach Erwähnung. Von der Heimatfront (Briefe von Elisabeth) wird dagegen über Zwangswirtschaft, Lebensmittelknappheit und die hohe Arbeitsbelastung in der Landwirtschaft berichtet. Ein zentrales Thema der Korrespondenz sind auch die unterschiedlichen religiösen Positionen der beiden Liebenden und der heftige Streit, der aus diesen religiösen Differenzen resultierte.

Familie Müller, ca. 1926, Foto: Heinrich Müller.

Heinrich und Elisabeth (geb. 1890 und 1892) sind im westfälischen Daseburg aufgewachsen, einem Dorf, in dem Katholik:innen und eine jüdische Familie lebten, aber keine Protestant:innen. Vor diesem Hintergrund entwickelten beide eine Sensibilität für die Situation der jüdischen Bevölkerung. Bereits zur Zeit der Weimarer Republik erwähnt Heinrich Müller Übergriffe auf jüdische Mitmenschen, deren Auswirkungen er im Juni 1919 in Kassel sah. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten blieben die Müllers kirchentreu. Anhand der Quellen lässt sich nachvollziehen, inwieweit Heinrich, Elisabeth und ihre beiden ältesten Söhne sich dem Nationalsozialismus widersetzten und welche Kompromisse sie eingingen.

1942 wurde Heinrich von seinem Arbeitgeber, der Reichsbahndirektion Kassel, an die Ostfront abgeordnet. Während er in Tallin/Estland und die kränkliche Elisabeth in Kassel darum kämpften, die Abordnung rückgängig zu machen, absolvierte ihr Sohn Heinz in Greifswald eine Offiziersausbildung. Die Briefe dieser drei Personen und die Antwortschreiben der Reichsbahndirektion Kassel dokumentieren eine dramatische Entwicklung, die im Tod Elisabeths bei einem Bombenangriff gipfelt. Heinrich bezichtigt später die Reichsbahndirektion der Mitschuld am Tod seiner Frau (vgl. Titel der Veröffentlichung).

Nach dem Tod von Elisabeth korrespondierte Heinrich weiterhin mit seinen beiden ältesten Söhnen Heinz und Kurt, die inzwischen als Soldaten in Frankreich, Russland und in der Ukraine kämpften. In seinem Notizbuch notierte Heinrich neben Alltäglichem die Angriffe der Royal Air Force auf Kassel. Diese Notizen zusammen mit den Interviews dokumentieren die Bombennacht vom 22./23. Oktober 1943 in Kassel aus der Perspektive der Reichsbahnangestellten.

Der Witwer und seine Söhne, ca. 1943, Foto: Heinrich Müller.

Die Autorin versteht es, eine Familiengeschichte in den Wirren und Verwerfungen zweier Weltkriege mit zahlreichen Informationen zu den historischen Hintergründen zu kombinieren. Entstanden ist eine anschauliche, durch viele Quellen belegte Schilderung von Alltagserfahrungen in einer Zeit, die von außergewöhnlichen Krisen geprägt war.

 

Renate Müller-Martens: „Betrifft: Tod der Ehefrau“. Familienschicksal in zwei Weltkriegen. Norderstedt 2024.