Der Freigerichtsplatz in Flamschen bei Coesfeld. Geheimnisvolle Femegerichte tagten unter freiem Himmel

11.02.2022 Niklas Regenbrecht

Das 'Koesfelder Rechtsbuch' mit dem 'Heymeliken Rechte', um 1450, Stadtarchiv Coesfeld, Foto Andreas Eiynck.

Andreas Eiynck

Im Mittelalter gab es noch keine einheitliche Justizordnung mit klar abgegrenzten Zuständigkeiten und Instanzen. Im Gegenteil – unterschiedliche Gerichte konkurrierten um Aufgaben und Strafgelder, aber auch um Macht und Einfluss der Gerichtsherren. Durchgesetzt haben sich schließlich die sogenannten Gogerichte, die sich meist in der Hand der Landesherren befanden und aus denen vielerorts die späteren Amtsgerichte mit regionaler Zuständigkeit hervorgegangen sind. Daneben gab es die sogenannten Freigerichte, die sich auf das ursprüngliche Gerichtsprivileg des Kaisers beriefen. Daher fühlten sie sich nicht nur für ihren eigenen Gerichtsbezirk zuständig, sondern sahen sich – unter Hinweis auf Kaiser und Reich – auch befugt, auswärtige Gerichtsverfahren an sich zu ziehen. So entstanden die „Femegerichte“, deren Urteile im ganzen Reich und bei allen Ständen gefürchtet waren. Denn war ein Angeklagter nicht vor dem Femegericht erschienen, so wurde er in geheimer Sitzung in Abwesenheit verurteilt. Gegebenenfalls erklärte das Gericht ihn für „verfemt“. Damit war er „vogelfrei“ und jeder war aufgerufen, das Urteil gegen ihn – wo auch immer – zu vollstrecken.

Eines hatten Go- und Freigerichte im Mittelalter gemeinsam: sie tagten nicht in einem Gerichtsgebäude, sondern unter freiem Himmel an einem allgemein bekannten Ort irgendwo in der freien Landschaft, oft an einer markanten Stelle, etwa einer Quelle oder einem großen Findling.

Viele Freigerichte wurden im 17. Jahrhundert aufgelöst und die Gogerichte folgten ihnen Anfang des 19. Jahrhunderts, als deutschlandweit eine neue Justizordnung eingeführt wurde. Nun tagten die Gerichte allesamt in besonderen Justizgebäuden. Damit gerieten viele alte Gerichtsplätze in Vergessenheit. Andere sind bis heute bekannt und manche sogar in der Landschaft sichtbar.

Der Freistuhl in der Bauerschaft Flamschen bei Coesfeld war das wichtigste Freigericht in der Freigrafschaft Merveldt, deren Bezirk den Raum Coesfeld mit Ausnahme des eigentlichen Stadtgebietes umfasste. Der Gerichtsplatz lag unmittelbar an der alten Landstraße von Coesfeld nach Reken vor den Toren der Stadt. Das Gericht war ein Lehen der Herzöge von Berg und an die Herren von Merveldt vergeben. Diese verpfändeten es 1385 an die Stadt Coesfeld. Damals hatten die Herzöge von Berg den Richterstuhl an einen Godeke Köbbing vergeben, den der Bischof von Münster mit zwei kleineren Gerichten in der Nachbarschaft belehnt hatte. Köbbing übertrug diese Gerichte der Stadt Coesfeld, die damit ihre Gerichtsbarkeit aus dem eigentlichen Stadtgebiet in das Umland ausweiten konnte.

Das Privileg über die 'Kaiserliche Freiheit' der Coesfelder Gerichtsbarkeit, Stadtarchiv Coesfeld, Foto Andreas Eiynck.

Die Verpfändung des Flamschener Freistuhls an die Stadt wurde fortlaufend erneuert und Coesfelder Bürger mit dem Gerichtsstuhl belehnt. Hatten die Herzöge von Berg als Lehnsherren einen neuen Freigrafen ernannt, so musste dieser zunächst den Bürgermeistern und dem Rat huldigen. Die Stadt hatte damit faktisch eine Kontrollfunktion über den Freistuhl.

Verhandelt wurden in Flamschen neben zahlreichen zivilen Gerichtssachen wie Verkäufen, Erbschaften und Testamente vor allem Strafsachen wie Diebstahl, Mord und Raub, Verrat und Fälschungen, Verstöße gegen den Landfrieden wie Raub und Brand in Kirchen, auf Kirchhöfen und Königsstraßen sowie schließlich auch Anklagen gegen Ketzer und Hexen. Häufig wurde vor dem Freistuhl in Flamschen auch die sogenannte „Urfehde“ geschworen, das heißt ein Verzicht auf Rache und Gewalt, der in der Regel auch mit erheblichen Geldzahlungen an die Kläger verbunden war.

1460 bestand das Gericht aus dem Freigrafen Johann de Swarte sowie 11 Beisitzern und Zeugen – alle 12 waren Bürgermeister und Ratsmänner der Stadt. 1504, so ist überliefert, hielten sie hier ein „echtes Ding“ ab, also eine reguläre, das heißt öffentliche Gerichtssitzung.

Wie die nichtöffentlichen Sitzungen nach „hemeliken rechte“ abgehalten wurden, überliefert ein Rechtsbuch aus der Mitte des 15. Jahrhunderts im Coesfelder Stadtarchiv. Dieses „Koesfelder Rechtsbuch“ enthält eine Sammlung von Auszügen verschiedener Femegerichtsbücher und Rechtsformeln in niederdeutscher Sprache. Die Aufzeichnungen stehen sicherlich im Zusammenhang mit dem Freistuhl zu Flamschen.

Zunächst werden in dem Buch die Ämter und die Funktionen bei Gericht beschrieben: der Freigraf mit seinen Rechten und Pflichten, die Schöffen, die freie Männer sein müssen und ehelicher Geburt, also keine „Bastarde“. Zu Beginn der Sitzung des „ghehegeden vryen Gherichte“ stand die Anklage. War der Angeklagte ordnungsgemäß geladen, aber nicht erschienen, so drohte ihm die Verfemung. Eine solche gerichtliche Ächtung musste schriftlich dokumentiert und besiegelt werden, die Schöffen waren in Listen zu erfassen.

Das 'Koesfelder Rechtsbuch' mit dem 'Heymeliken Rechte', um 1450, Stadtarchiv Coesfeld, Foto Andreas Eiynck.

Geregelt wurde auch die Zuständigkeit gegenüber auswärtigen Gerichten und die Ladung von Angeklagten, die sich dem Gericht entziehen wollten. Ihnen wurde die Vorladung an die Tür oder das Tor geheftet und als Beweis ein Holzspan aus dem Türblatt geschnitten. Dem Flüchtigen drohte am Ende das „heimliche Gericht“, eine Verhandlung in Abwesenheit, deren Modalitäten genau festgeschrieben waren. Wer den Landfrieden verletzt hatte, auf Wegen und Straßen, im Hause, im Wald oder auf dem Feld, in Tavernen, Wein- oder Bierhäusern, in Kirchen und Klusen, dem drohte eine Strafe an Leib und Leben. Wurde der Angeklagte für schuldig befunden und sollte er mit Strick und Galgen bestraft werden, so mussten Kläger und Schöffen einen Eid auf ihr Urteil leisten, mit den Fingern auf einem Schwert. Der Schuldspruch wurde verkündet und die Verfemung ausgesprochen.

Nun war der Verurteilte vogelfrei. Er hatte seine Rechte verwirkt und hatte nirgendwo mehr freies Geleit. Seine Leiche sollte von den Krähen und wilden Tieren zerrissen werden. Jedermann war aufgefordert, das Urteil zu vollstrecken, denn der Verfemte stand unter dem Bann des Königs. Allerdings bestand die Möglichkeit eines Widerrufs des Urteils oder einer Begnadigung. Auch hierfür sind im „Koesfelder Rechtsbuch“ genaue Verfahrensregeln festgeschrieben.

Ein konkreter Fall des Femegerichtes am Freistuhl zu Flamschen ist für das Jahr 1440 überliefert. Vor dem Freigrafen Johann von Wüllen wurden damals Joahnn Brundstedt und seine Gesellen wegen Landfriedensbruch angeklagt. Sie waren aber bei Gericht nicht erschienen, sondern hatten sich nach Lochem in die Niederlande abgesetzt. Daraufhin wurden sie erneut vorgeladen und als sie wieder nicht erschienen in Flamschen in Abwesenheit verurteilt. Das Gericht erklärte sie „aller Vryheid und Rechte“ verlustig und „gaff oir Lyff den Vogelen und Dieren“. Die Schöffen eines jeden Freigerichtes waren nun zur Vollstreckung des Urteils aufgefordert. Sie sollten die Geächteten „antasten und hanghen die an den neestsen Boom den se dan becomen konnen“, denn sie galten fortan als rechtlos, ehrlos, friedelos und verfemt.

Freigerichte maßen sich häufig das Recht zu, die Urteile anderer Gerichte wegen echter oder vermeintlicher Formfehler aufzuheben. Dies war für die Inhaber eines Freistuhls ein ideales Instrument gegen ungünstige Gerichtsurteile auswärtiger Gerichte, zog aber letztlich jeden Prozess in die Länge und führte zu einer allgemeinen Lähmung der Gerichtsbarkeit. Deshalb wurden die Freigerichte nach 1437 von den Kaisern nicht mehr gefördert und geschützt. Die Reichsjustiz setzte nun auf das neu eingerichtete Reichskammergericht. Viele Landesherrn und Städte untersagten nun sogar die Anrufung von Freigerichten. Bischof Erich von Münster verbot 1516 für seinen Herrschaftsbereich die heimlichen Femegerichte und 1577 erteilte Kaiser Rudolph ein Privileg, welches das Hochstift Münster von den Urteilen heimlicher Gerichte ausschloss. Damit versanken die Freigerichte bald in der Bedeutungslosigkeit. Dies gilt auch für das Freigericht Flamschen, das 1632 offiziell aufgehoben wurde.

Der Freistuhl zu Flamschen, Foto Andreas Eiynck.

Der Gerichtsplatz „up’n friien Stool“ blieb als Flurname in Erinnerung und wurde im 20. Jahrhundert mit der Nachbildung eines steinernen Gerichtstisches als Ort historischer Strafjustiz markiert. Die Tischplatte zeigt drei Wappen: In der Mitte den Reichsadler für das kaiserliche Freigericht, links das sparrenartige Wappen der Herren von Merveldt und rechts den „Ossenkopp“ das Wappen der Stadt Coesfeld. Auf der Vorderseite ist ein Schriftzug eingemeißelt: „i g an den vrien stoel te vlameshem“ (im Gedenken an den freien Stuhl zu Flamschen). Der geschichtsträchtige Ort liegt unmittelbar an der breit ausgebauten Hauptstraße von Coesfeld nach Reken in der Nähe der Freilichtbühne Flamschen und ist mit einer kleinen Erläuterungstafel ausgeschildert.

Der Freistuhl in Flamschen ist einer von rund 150 Femegerichtsorten in Westfalen, an die heute vielerorts noch Rekonstruktionen, Informationstafeln oder Flurnamen erinnern.

 

Zum Weiterlesen:
Peter Horstmann (2017): Die Feme, in: Westfälische Erinnerungsorte. Beiträge zum kollektiven Gedächtnis einer Region, hrsg. von Lena Krull, Paderborn (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 80), S. 261-271.

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