Von Baumschiffen, Fischvögten, Hellebarten und Wasserleichen: Fischerei im Dümmer See im 16. Jahrhundert

06.08.2021 Dorothee Jahnke

Ansicht des Dümmer Sees sowie der Ortschaften Lemförde und Diepholz, 1764. NLA HA Kartensammlung Nr. 11a/42 pm; https://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/digitalisatViewer.action?detailid=v4514145&selectId=12702067

Sebastian Schröder

 

Grenzkonflikte waren in der Frühen Neuzeit (1500–1800) an der Tagesordnung. Auch die Grafen von Diepholz sowie die Bischöfe von Minden, Osnabrück und Münster waren sich uneins über den genauen Grenzverlauf ihrer Herrschaftsgebiete. Gewaltige Aktenkonvolute, die seit dem 16. Jahrhundert überliefert sind, beschäftigen sich dabei unter anderem mit der Frage, zu wessen Einflussbereich der Dümmer See zähle. Dabei handelte es sich um ein 12,4 Quadratkilometer großes und bis zu 1,4 Meter tiefes Binnengewässer im niedersächsischen Landkreis Diepholz, das zwischen Lemförde, Damme und Diepholz liegt und von der Hunte durchflossen wird. Dieser territoriale Konflikt manifestierte sich ganz praktisch an der Frage, wer in dem Gewässer Fischfang treiben durfte. Im Folgenden soll anhand von Zeugenverhören gezeigt werden, wie die Menschen des 16. Jahrhunderts in der Nähe des Dümmer Sees und der Hunte Fische jagten und wem dieses Recht eigentlich zustand.

Die im Dümmer vorhandenen Fischgründe waren bei den Anrainern sehr begehrt. Alle Einwohner der umliegenden Bauerschaften wollten dort fischen oder Netze auswerfen. Allerdings beanspruchte der Graf von Diepholz das alleinige Privileg, die schmackhaften Seebewohner zu fangen. Deshalb musste jeder Fischer bei ihm eine vorherige Genehmigung einholen. Als Gegenleistung waren einige Fische als Naturalien abzuliefern. Ungefähr zu der Zeit, als Johann von Diepholz (1510–1545) das zum Mindener Bistum gehörige Amt Rahden pfandweise untergehabt hatte, ließ er sich zwei- oder dreimal im Jahr Fische zur Burg Rahden bringen, wo er zeitweilig residierte. Und wer in der südlich des Dümmer Sees verlaufenden Hunte (die dort auch als Aue bezeichnet wurde) mit Körben jagte („Korbleute“), hatte den Diepholzer Amtleuten zu Lemförde jährlich auf Palmsonntag eine Tonne Butter zu liefern. Gleichwohl erinnerte sich der in der Nähe lebende Adlige Hartung von der Horst im Jahr 1575, dass einige Eingesessene des Stifts Osnabrück diese Vorrechte missachtet und noch während der Laichzeit „sich ungebuerlich Fischen angemaßet“ hätten. Jedoch konnte der Diepholzer Landesherr die Delinquenten nie auf frischer Tat ertappen. Deshalb überlegte er sich eine List: Er ließ einen seiner Diener und den Lemförder Einwohner Johann Schleimer eine Hellebarte an den Fuß binden. Derart ausgerüstet gingen die beiden Männer in das Binnengewässer hinein und warfen eine Angel „zum Scheine“ aus. Für Außenstehende muss diese Situation keinen Verdacht erregt haben; jedenfalls schlug niemand Alarm. Und tatsächlich: Als Schleimer und der Diepholzer Bedienstete ihre Osnabrücker Widersacher entdeckten, ergriffen sie umgehend ihre unter der Wasseroberfläche verborgenen Waffen und nahmen die Übeltäter fest, um sie nach Lemförde ins Gefängnis zu bringen.

Karte des westlichen Grenzbereichs der Grafschaft Diepholz mit dem Dümmer See und der Hunte, Ende 16. Jh. NLA HA Kartensammlung Nr. 11a/32 pm; https://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/detailAction.action?detailid=v4503610&icomefrom=search

Die Menschen jagten aber mit ihren Angeln nicht nur im Uferbereich nach Fischen. Vielmehr berichtete im Jahr 1575 der ungefähr 60-jährige Nickel von Scherling, ein aus Schweden gebürtiger Adliger, der als Landdrost in Diepholzer Diensten stand, von sogenannten „Baumschiffen“. Es handele sich um Boote, die aus einem einzigen Stamm gefertigt würden. Mit diesen schwimmenden Gefährten führen die Menschen auf den See, um dort Angeln oder Netze auszuwerfen. Paul Heitzfelder, ein für den Grafen von Diepholz tätiger Oberstleutnant, sagte aus, dass die aus Eichenholz hergestellten Schiffe nur nach vorheriger Bewilligung des Grafen zu Wasser gelassen werden dürften. Dagegen sei es den Untertanen des Niederstifts Münster und des Fürstbistums Osnabrück ausdrücklich verboten, mit einem Boot den Dümmer See zu befahren.

Auch der Einsatz von Netzen beziehungsweise von Fangkörben war strikt reglementiert. Diesbezüglich hatten die Diepholzer Grafen einen „Fischvogt“ bestellt, der einerseits mögliche Vergehen am und im Dümmer See aufzudecken habe und andererseits als einzige Person ein großes Netz auswerfen dürfe, wie der 70 Jahre alte Lemförder Bürger, Ackerbauer und Kaufmann Heinrich Bödeker ausführte. Dieser Zeuge erzählte der Gerichtsdeputation übrigens zudem, dass die heutige Hunte verschiedene Abschnittsnamen trage: In der Nähe des osnabrückischen Amtshauses Hunteburg heiße der Fluss „Hunte“, ab dem Punkt, wo von Westen her die Aue in die Hunte fließe, bis zum Dümmer See nenne man das Gewässer dagegen „Aw“ (Aue). Oder wie sich der Osnabrücker Dietrich Wüstemann ausdrückte: „Einer nenne es die Aw, der ander die Hunte, und sei gleichwoll ein Fluss, der inn den Dummer fleust.“

Im Verlauf der gerichtlichen Auseinandersetzung darüber, ob die Eingesessenen von Minden im Dümmer See Fische jagen durften, wurde ferner der seinerzeitige Fischvogt Helmich vernommen, ein Mann von 60 Jahren, dessen hundertjähriger Vater bereits dieses Amt versehen hatte. Helmichs Nachname weist auf seine Tätigkeit hin: „Vischvogtt“ notierten die Protokollanten. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung könne er ohne Einwände bestätigen, dass nur die Diepholzer Grafen und ihre Untertanen die Fischgründe im Dümmer See nutzen dürften. Zum Verlauf der Hunte, die damals als Grenze angesehen wurde, erklärte Helmich: „Er wisse woll, d[a]z die Hunte in den Dummer unnd wider heraus fließe, aber sonst inn der Mitte konne man kein Underscheidt des Wassers kennen.“ Damit sprach er ein gewichtiges Problem an: Innerhalb des Gewässers gab es keine herausstechenden Punkte oder Markierungen, die den See in Zonen oder Einflussbereiche hätte teilen können; statt der Vorstellung einer linearen Grenze muss eher ein Saum oder eine Zone angenommen werden. Diese Kontroverse sollte bis ins 18. Jahrhundert hinein stets virulent bleiben, wobei letztlich anerkannt wurde, dass Dümmer und Hunte nicht zum Mindener Hoheitsgebiet zu rechnen seien.

Der See barg darüber hinaus gewisse Gefahren. Der adlige Jost von Haßberg aus der Grafschaft Hoya informierte in den 1570er-Jahren über den Fund eines Ertrunkenen. Die Einwohner zu Lemförde hätten nach der Entdeckung den Fischvogt kontaktiert, der den Kopf des Verstorbenen an Land gezogen habe, während die Füße des Mannes im Wasser verbleiben mussten – wie es langjährig geübte Sitte sei. Penibel wurde zunächst geprüft, ob der Tod infolge eines Unfalls eingetreten war oder ob es sich um einen Suizid gehandelt haben könnte. Erst als der Graf zu Diepholz sein Einverständnis erklärt und einen Selbstmord ausgeschlossen hatte, habe der Leichnam „zur Erdenn bestattet“ werden dürfen.

Es zeigt sich: Die Grenzprotokolle erweisen sich ganz unabhängig von ihrem eigentlichen Streitgegenstand als herausragende und facettenreiche Quellen zur Erforschung historischer Alltagskultur – das Fischen ist dabei nur ein Aspekt unter vielen.