Die Lücke für den Zeitraum zwischen Februar 1939 und Januar 1946 bietet auf mehreren Ebenen Deutungsspielraum. Ein naheliegender Grund für das Fehlen von Fotos aus diesen Jahren wäre die Tatsache, dass Henriette Hertz auf Grundlage eines im November 1941 erlassenen Gesetzes ihre drei Kameras bei der Gestapo abgeben musste. Dies belegt eine überlieferte Auflistung des enteigneten Eigentums von Hertz, die sie 1949 im Rahmen ihres Rückerstattungsverfahrens anfertigte. Ungeachtet des fehlenden Zugangs zu Kameras und Filmmaterial scheint es kaum verwunderlich, dass Hertz die Jahre ihrer Verfolgung und ihres Untertauchens nicht dokumentiert hat: Sie hat die Fotoalben vor und nach dem Krieg offenbar als Ausdrucksmittel eines unbeschwerten, privilegierten Lebens genutzt. Im Untergrund – unter falschem Namen, ohne Kontakt zu vertrauten Personen, ohne identitätsstiftende Aktivitäten – war es ihr nicht möglich, daran anzuknüpfen. So finden sich nur subtile Hinweise auf die Verfolgung und die Jahre im Untergrund. Das letzte Foto des Albums vor der zeitlichen Lücke, datiert auf Januar 1939; es zeigt Henriette Hertz im Dreiviertelprofil. Sie trägt ein zeittypisches Kleid mit Puffärmeln, ihre Haare sind auffällig frisiert. In fast dokumentarischer Weise ist diese Fotografie mit „Kennkartenbild“ beschriftet. Jüdinnen*Juden waren per Gesetz ab Juli 1938 dazu verpflichtet, eine Kennkarte mit sich zu führen, die ihre „nicht arische Abkunft“ dokumentierte und den antisemitischen Zwangsvornamen enthielt. An anderer Stelle ist ein kleiner Umschlag in ein Fotoalbum aus der Nachkriegszeit eingelegt, der kleinformatige, zurechtgeschnittene Fotos der Angehörigen enthält, die Henriette Hertz laut Bericht einer Angehörigen in einem Medaillon mit in den Untergrund genommen hatte.