Schwerpunkt Fotografie: Lückenhafte Erinnerung – Die Fotoalben der Münsteranerin Henriette Hertz

10.09.2024 Marcel Brüntrup

Karolin Baumann

In der Sammlung des Geschichtsorts Villa ten Hompel sind insgesamt vierzehn Fotoalben der Münsteranerin Henriette Hertz (1913–2001) als Dauerleihgaben überliefert. Kontinuierliche Datierungen in den Fotobeschriftungen zeigen, dass die Jahre vor und nach dem Zweiten Weltkrieg fast lückenlos in den Fotoalben abgebildet werden. Zwischen den Jahren 1939 und 1945 klafft hingegen eine Lücke in der Überlieferung: Jahre, in denen Henriette Hertz als Jüdin von den Nationalsozialisten verfolgt wurde und unter falschem Namen untertauchen musste, um der Deportation zu entgehen. Dieser Beitrag nimmt die Fotoalben quellenkritisch als Ausdruck von Identität und Erinnerungsbildung in den Blick und betrachtet die Leerstellen angesichts der antisemitischen Verfolgung der Familie Hertz.

Vierzehn überlieferte Fotoalben der Zeiträume 1913 bis 1939 sowie 1946 bis 1956 aus dem Nachlass von Henriette Hertz. Villa ten Hompel, Dep. 446 Schlautmann/Möllenhoff sowie Dep. 278.

Beim Durchblättern der Alben werden die Funktionen, die das Fotografieren und anschließende Kuratieren der Alben für Henriette Hertz hatte, schnell sichtbar: Sie komponiert die Fotos zu einer Erzählung über ihr junges Erwachsenendasein. Dabei dominieren Motive, die sie selbst in Urlauben und bei Ausflügen, im Kontext ihrer schulischen Laufbahn und ihres sozialen Umfelds, bei Aktivitäten wie Tennisspielen oder Fahrradfahren zeigen. Die Aufnahmen von ihr, Familie und Freund*innen wirken unbeschwert. Hertz zeigt sich in verschiedenen Posen, lacht in die Kamera und genießt es sichtlich, sich fotografieren zu lassen. Beschrieben sind die Albumseiten zumeist mit einer Orts- und einer Jahresangabe. Einige Alben enthalten zusätzlich Postkarten, die ergänzend zu Urlaubsfotos eingeklebt wurden.

Auszüge aus verschiedenen Fotoalben, die Aufnahmen aus der Schulzeit und dem sozialen Umfeld von Henriette Hertz enthalten, späte 1920er- und frühe 1930er-Jahre. Villa ten Hompel, Dep. 446 Schlautmann/Möllenhoff.

Die gut erforschte Biografie der Familie Hertz gibt Aufschluss darüber, dass sich die Familie als liberal jüdisch verstand. Henriette Hertz besuchte den katholischen Religionsunterricht, auch sonst war die jüdische Kultur in ihrem Alltag eher von untergeordneter Bedeutung. Hinweise auf die jüdische Identität der Familie finden sich in den Fotoalben nur selten, beispielsweise in Form eines Fotos von einem unbekannten Jungen mit Gebetsriemen sowie einer Postkarte von einer Synagoge im spanischen Toledo, die Hertz 1936 im Zuge eines Urlaubes in Madrid besucht hatte.

Eine Albumseite, die Hertz’ Vater Dr. Albert Hertz als Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg sowie einen unbekannten Jungen mit Gebetsriemen zeigt. Villa ten Hompel, Dep. 446 Schlautmann/Möllenhoff.
Eingeklebte Postkarte der Synagoge Santa María la Blanca in Toledo. Hertz sprach fließend Spanisch und verbrachte 1934/1935 sechs Monate in Madrid. Villa ten Hompel, Dep. 446 Schlautmann/Möllenhoff.

Fotoalben sind bewusst zusammengestellte, subjektive Medien der Erinnerung. Die Autor*innen zeigen das, was sie für wichtig erachten und an was sie sich erinnern möchten, andere Aspekte, die vielleicht eine gleich große oder größere Bedeutung im Leben einnehmen, können hingegen bewusst ausgelassen werden. Das zeigt sich auch an Henriette Hertz‘ Fotoalben, wenn man sich die familiären Umstände der 1930er- und 1940er-Jahre vor Augen führt. Die antijüdische Gesetzgebung und Propaganda sorgten beispielsweise dafür, dass Hertz aus ihrem Tennisverein ausgeschlossen wurde, sie 1933 keine Lehrstelle in ihrem Wunschberuf als Modezeichnerin fand und die zuvor angesehene Anwaltsfamilie zunehmend Anfeindungen und Ausgrenzung ausgesetzt war. Der Umzug der Familie in die Prinz-Eugen-Straße 1937 wird zwar fotografisch abgebildet, nicht aber kommentiert, dass dieser eine Folge der Enteignung der Familienvilla an der Engelstraße war. Stattdessen wird der üppige Garten an der Prinz-Eugen-Straße in den Mittelpunkt gestellt, ohne dass negative Konnotationen Teil der Erzählung werden. Auch Schicksalsschläge wie der krankheitsbedingte Tod beider Elternteile 1939 und 1941 bleiben Leerstellen.

Eine von mehreren Albumseiten, die den Umzug 1937 in die Prinz-Eugen-Straße zeigen. 1939 wurde es zu einem sogenannten ‚Judenhaus‘ umfunktioniert. Villa ten Hompel, Dep. 446 Schlautmann/Möllenhoff.

Die Lücke für den Zeitraum zwischen Februar 1939 und Januar 1946 bietet auf mehreren Ebenen Deutungsspielraum. Ein naheliegender Grund für das Fehlen von Fotos aus diesen Jahren wäre die Tatsache, dass Henriette Hertz auf Grundlage eines im November 1941 erlassenen Gesetzes ihre drei Kameras bei der Gestapo abgeben musste. Dies belegt eine überlieferte Auflistung des enteigneten Eigentums von Hertz, die sie 1949 im Rahmen ihres Rückerstattungsverfahrens anfertigte. Ungeachtet des fehlenden Zugangs zu Kameras und Filmmaterial scheint es kaum verwunderlich, dass Hertz die Jahre ihrer Verfolgung und ihres Untertauchens nicht dokumentiert hat: Sie hat die Fotoalben vor und nach dem Krieg offenbar als Ausdrucksmittel eines unbeschwerten, privilegierten Lebens genutzt. Im Untergrund – unter falschem Namen, ohne Kontakt zu vertrauten Personen, ohne identitätsstiftende Aktivitäten – war es ihr nicht möglich, daran anzuknüpfen. So finden sich nur subtile Hinweise auf die Verfolgung und die Jahre im Untergrund. Das letzte Foto des Albums vor der zeitlichen Lücke, datiert auf Januar 1939; es zeigt Henriette Hertz im Dreiviertelprofil. Sie trägt ein zeittypisches Kleid mit Puffärmeln, ihre Haare sind auffällig frisiert. In fast dokumentarischer Weise ist diese Fotografie mit „Kennkartenbild“ beschriftet. Jüdinnen*Juden waren per Gesetz ab Juli 1938 dazu verpflichtet, eine Kennkarte mit sich zu führen, die ihre „nicht arische Abkunft“ dokumentierte und den antisemitischen Zwangsvornamen enthielt. An anderer Stelle ist ein kleiner Umschlag in ein Fotoalbum aus der Nachkriegszeit eingelegt, der kleinformatige, zurechtgeschnittene Fotos der Angehörigen enthält, die Henriette Hertz laut Bericht einer Angehörigen in einem Medaillon mit in den Untergrund genommen hatte.

Zurechtgeschnittene Fotos von Hertz’ Eltern und weiteren Angehörigen, die sie während ihres Untertauchens in einem Medaillon aufbewahrte. Villa ten Hompel, Dep. 446 Schlautmann/Möllenhoff.
Auszüge aus den Fotoalben aus der Nachkriegszeit, die Hertz bei einem einjährigen Aufenthalt in New York und zurück in Deutschland zeigen. Villa ten Hompel, Dep. 278.

Die Porträts von ihr, die auf die Zeit nach 1946 (bis 1956) datiert sind und die somit nach Kriegsende und nach der Zeit ihres Untertauchens entstanden sind, zeigen sie als selbstbewusst posierende und modisch gekleidete Frau. Die wiedergewonnene Freiheit, zum Beispiel ein längerer Aufenthalt in New York 1948, wird Teil der Komposition – anders als die Traumata der Verfolgung und ihre Nachwirkungen, die Henriette Hertz zu dieser Zeit in einem aufwändigen Rückerstattungsverfahren erleben musste. Ihr fotografischer Nachlass zeigt, wie selbst die Leerstellen in Fotoalben vor dem Hintergrund biografischen Wissens erhellende Einsichten in Konstruktionen der Erinnerung geben können.

Literatur:

Gisela Möllenhoff, Rita Schlautmann-Overmeyer: Jüdische Familien in Münster 1918 bis 1945. Teil 1: Biographisches Lexikon. Im Auftrag der Stadt Münster, der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. und des Institutum Judaicum Delitzschianum der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Hg. von Franz-Josef Jakobi, Andreas Determann und Diethard Aschoff. Münster 1995, S. 185f.

Birgit Lammersmann, Karin Wißmann: Nicht nach Riga! Der Überlebenskampf einer Münsterschen Jüdin im Dritten Reich. In: Heinz-Ulrich Eggert (Hg.): Schon fast vergessen. Alltag in Münster 1933-1945, Münster 1986, S. 139–183.