Zwischen Dystopie und Romantik: Fotografische Konstruktionen des Ländlichen. Ein Tagungsbericht

29.11.2024 Niklas Regenbrecht

Kathrin Schulte

Fotografien vom Land und seinen Bewohnern sind wichtige historische Quellen, die Auskunft geben können über die mediale Vermittlung von politischen und sozialen Bedingungen und Veränderungsprozessen. Eine Analyse von Bildproduktion und Bildgebrauch, von Bildserien ebenso wie von einzelnen Aufnahmen zeigt die mediale (Re)Produktion beispielsweise von Machtstrukturen und Geschlechterbildern, die in der ‚ländlichen Fotografie‘ ganz eigene Bildsprachen, Sujets und Ikonen findet. Gerade das Land und seine Bewohner waren und sind eine vielfach be- und genutzte Folie für politische Agitationen, Ästhetisierungen oder die Schaffung von Warenwerten, die ohne die Produktion von Bildmedien nicht denkbar sind. Sie erweisen sich auch hinsichtlich der Erinnerungskultur als wirkmächtig. Um die „Normen, Werte und Deutungshorizonte zu verstehen, die das kollektive Bildgedächtnis des Ländlichen bis heute prägen“ (Tagungsankündigung), veranstaltete die Kommission Fotografie der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft gemeinsam mit der Kommission Alltagskulturforschung und dem LWL-Medienzentrum am 26./27. September 2025 die Tagung „Countryside(s). Fotografische Konstruktionen des Ländlichen“ in Münster.

Eröffnung der Tagung Countryside(s). Fotografische Konstruktionen des Ländlichen (im Bild: Ulrich Hägele; Foto: Kathrin Schulte).

Ulrich Hägele unternahm einführend eine Kategorisierung des ruralen Fotografenblicks seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der er fünf verschiedene fotografische Sichtweisen, von ihm als „Blicke“ bezeichnet, ausmachte. Einer dieser Blicke war derjenige der (meist britischen) Pioniere der Fotografie im 19. Jahrhundert, die vor allem ausprobierten, wie und wo das neue Medium einzusetzen war. Ein weiterer Blick war der ‚Professionelle Blick‘, in dessen Rahmen bereits erste vor allem ästhetische Bildkompositionen angefertigt wurden, außerdem der ‚Ideologische Blick‘, zu dem Hägele sowohl die Fotografie der Heimatschutzbewegung, NS-ideologisch gefärbte Fotografien sowie die Fotografien zählte, die beispielsweise im Rahmen der FSA (Farm Security Administration) in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind. Diesem ‚Ideologischen Blick‘ stellte er den ‚Sozialen Blick‘ gegenüber. Hier hat Hägele Fotografien mit sozial-dokumentarischem Anspruch eingeordnet.  Als fünftes nannte er den ‚Ethnographischen Blick‘, der bis in die 1890er Jahre zurückgeht und mit einem Dokumentationsanspruch einherging, teilweise aber auch klassistische, rassistische und koloniale Sichtweisen reproduzierte. In der anschließenden Diskussion deutete sich bereits an, dass es zahlreiche weitere Perspektiven gab und gibt, manche der Kategorien sich auch schwer voneinander abgrenzen lassen. Dennoch ist die Frage nach Deutungshoheiten und Entstehungskontexten wichtig und zentral, wie sich im Verlauf der Tagung zeigen sollte.   

Die Beiträge des ersten Panels „Inszenierungen und Instrumentalisierungen des Ländlichen“ zeigten, wie Fotografie zur politischen und ideologischen Konstruktion ländlicher Räume ge- und benutzt wurde. Elisabeth Fendl beleuchtete die Rolle der Fotografie im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, die zur nationalsozialistischen Identitätsbildung beitrug und verdeutlichte, wie die Bilder die heimatkundliche und völkische Forschung flankierten und das Image der Region (bis heute) präg(t)en. Auf der Basis des fotografischen Œuvres zweier Fotografen analysierte Stefan Zimmermann die fotografische Inszenierung der Lüneburger Heide. Hier zeigte sich einmal mehr, wie wichtig es ist, Fragen der Bildproduktion in die Analyse miteinzubeziehen und nach der Wirkweise des ideologischen Blicks eines Oleg Woinoff zu fragen, der sich mit vermeintlich dokumentarischen Bildern vom Land und seinen Bewohnern dem NS-Regime angedient hat.

Nathalie Dimic stellte die Lichtbildwerkstatt Hehmke-Winterer vor und erläuterte, wie die Fotografien der beiden Fotografinnen aus diesem Atelier im Nationalsozialismus gezielt genutzt wurden, um Arbeiter als Teil des „Industrievolks“ darzustellen und Arbeit ideologisch aufzuladen. Helena Pirttisaari-Sundström untersuchte die Darstellung ostkarelischer Landschaften durch finnische Grenzsoldaten, die eine starke Verbindung zwischen nationalistischer Ideologie und der Ästhetik von Männlichkeitsbildern in der Kriegsfotografie offenbarten. Andreas Eiynck schloss mit der Inszenierung des Herdfeuers als zentralem Element ländlichen Lebens. Er konnte zeigen, dass die Fotografien weniger Alltagsrealität darstellten, als vielmehr eine großbäuerliche, ideologisch aufgeladene Selbstinszenierung waren.

Das zweite Panel „Das Ländliche als das Fremde – Distanzierende Blicke“ thematisierte die distanzierte und oft stereotype Darstellung ländlicher Räume in den Kolonien und in Osteuropa. Anne Peiter zeigte, wie koloniale Stereotype, nicht zuletzt die Kategorisierung als die „Schweiz Afrikas“, in der visuellen Darstellung Ruandas von der deutschen Kolonialzeit bis zum Genozid 1994 und darüber hinaus fortwirkten und zur Konstruktion ethnischer Trennlinien beitrugen. Thomas Kühn analysierte Postkarten der Fotografen Wiele & Klein aus dem kolonialen Indien, die mehr oder weniger subtil koloniale Machtverhältnisse und Sichtweisen transportierten. Die hier gewählten Bildkonstruktionen fremder/indischer Ländlichkeit und Exotik waren auf die Bedürfnisse englischer Ansichtskartenkonsumenten zugeschnitten und reproduzierten den kolonialen Blick. Matthias Thaden hinterfragte die stereotype Darstellung Südosteuropas in der Sammlung des Journalisten Gustav Adolf Küppers. Er zeigte auf, dass die Bilder durchaus Spuren von Moderne und Migration sichtbar machen, dass diese durch die Auswahl eines Museums (in diesem Fall des Museums Europäischer Kulturen) zugunsten stereotyper Darstellungsmuster in den Hintergrund gedrängt wurden. An diesem Beispiel zeigt sich, wie wichtig es ist, die Sammelpraxis der Museen und Archive kritisch zu reflektieren. Durch die Entscheidungen von Kurator:innen und Sammlungsverwalter:innen wurden und werden Bildgedächtnisse geschaffen, die unser Bild von Geschichte prägen und dieses in die Zukunft transportieren.

Victoria Mummelthei untersuchte in ihrem Abendvortrag den Ego-Shooter Far Cry 5 und zeigte, wie ein virtueller ländlicher Raum durch dystopische Narrative und Spielerinteraktionen dekonstruiert wird. Eine ganz eigene Perspektive eröffnet sich durch den Fotomodus des Spiels, der das Untersuchungsfeld um KI-generierte fotografische Ländlichkeiten erweitert. Hier gilt es unbedingt weiterzufragen und zu analysieren, welche Imaginationen durch die KI geschaffen und welche Stereotype bedient und forciert werden.  

In Münster (im Bild die Überwasserkirche in unmittelbarer Nähe zum Tagungsort) veranstaltet die DGEKW-Kommission Fotografie alle zwei Jahre Tagungen zum Thema Fotografie. (Foto: Kathrin Schulte).

Das dritte Panel, „Perspektiven auf ländliche Lebens- und Arbeitswelten“, begann mit Marcel Brüntrups Analyse von 90 Fotoalben bäuerlicher Familien in Westfalen, die vom späten 19. Jahrhundert bis in die 2000er Jahre reichen. Er zeigte, dass sich Fotografie in bäuerlichen Kreisen keineswegs in der Nachahmung bürgerlicher Praktiken erschöpfte, wie Pierre Bourdieu annimmt, sondern eine dynamische Form der Selbstrepräsentation war und ist. Die Akteure vor und hinter der Kamera finden eigene Ausdrucksformen und Bildthemen, die ihre Lebenswelt und ihren Alltag zeigen. Dies bestätigte sich auch im Vortrag von Markus Köster. Er widmete sich dem Œuvre des fotografischen Autodidakten Ignaz Böckenhoff, der das Dorfleben im münsterländischen Dorf Raesfeld während der Zeit des Nationalsozialismus fotografisch dokumentierte. Böckenhoffs Bilder zeichnen ein differenziertes Bild des ländlichen Alltags und Festtags unter nationalsozialistischem Einfluss, das neben dem ideologisch Überformten auch Szenen des Widerstands und der Kontinuität enthält.

Bei der Konstruktion von ländlicher Arbeitswelten spielen und spielten auch Stereotypisierungen eine wichtige Rolle, die sich paradigmatisch anhand von Darstellungen der Sennerin in historischen Fotografien und Werbematerialien zeigen lassen. Valerie Therese Taus analysierte, welche Rolle die Heimatbewegung und die Freizeitindustrie in diesem Kontext gespielt haben. Über einen Vergleich historischer Bilder mit aktuellen Aufnahmen konnte sie zeigen, dass und wie es gelang, ältere Stilisierungen durch neue Bildikonen zu ersetzen, ohne die Gesamtaussage zu verändern.

Margreet van der Burg schloss das Panel mit einer intersektionalen Analyse von ländlichen Ikonografien. Sie untersuchte, wie Geschlecht, Klasse und Ethnizität in visuellen Darstellungen ländlicher Umgebungen ineinandergreifen und wie Spannungsfelder wie Tradition und Moderne in die Darstellungsweisen verwoben sind.

Eberhard Wolffs Beitrag über den sozialistisch geprägten Fotografen Hermann Freytag leitete das vierte Panel „Das Ländliche als Sehnsuchtsort – Aneignungen“ ein. Wolff zeigte, dass Freytags Fotografien ein dynamisches und modernes Bild des Ländlichen vermitteln. Freytag reflektierte technische Entwicklungen und den Austausch mit städtischen Lebensbereichen und hinterfragte klischeehafte Vorstellungen von Tradition und Naturverbundenheit. Maria Daldrup thematisierte die Wanderungen der städtisch geprägten Arbeiter:innenjugendbewegung anhand von Alben und Fahrtenbüchern aus den 1920er bis 1950er Jahren. Die Fotografien und Bildbeschriftungen in den Alben zeigen die Aneignung des Ländlichen als Erholungsraum und zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit den dortigen Lebensbedingungen. Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von Barbara Stambolis, die die Fotografien jüdischer Jugendlicher aus der Hachschara-Bewegung analysierte. Auf speziellen Bauernhöfen wie beispielsweise dem Gutshof Bzrezno in Niederschlesien bereiteten sich jüdische Jugendliche aus dem städtisch-bürgerlichen Milieu auf ihre Emigration nach Palästina vor. Die Fotoalben, die sie in der Zeit ihres Aufenthaltes auf dem Land erstellten, spiegeln eine ganz spezifische Sicht auf ihre Umgebung, die einerseits geprägt war durch ihre städtisch-bürgerliche Herkunft, auf der anderen Seite auch durch ihre Reaktionen auf Diskriminierung und Unterdrückung.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Referent:innen zahlreiche Analysen, Fragestellungen und Herangehensweisen präsentiert haben, die sich bei der Frage nach den Konstruktionen und Konstruiertheiten des Ländlichen als sinnvoll und virulent erwiesen haben. Vor allem die Beschäftigung mit den historischen Wurzeln der ‚Blicke‘ auf das Land und seine Bewohner, waren gewinnbringend und anschlussfähig für weitere Diskurse (KI, Nationalsozialismus, Postkolonialismus …). Die vier Panels spiegelten bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze und Themen deutlich wider, dass Fotografien vom Land und seinen Bewohner:innen – seien sie nun von den Landbewohner:innen selbst oder von Außenstehenden gemacht worden – mehr sind als der Nachhall städtisch-bürgerlicher Werte, Normen und Deutungshorizonte. Letztere – auch das hat die Tagung gezeigt – wirken aber nicht nur in theoretischen Konzepten (P. Bourdieu), sondern auch im Sammeln und Ausstellen der Archive und Museen bis heute fort. Die Tagung hat Lust gemacht, der Bandbreite an fotografischen Konzepten von Ländlichkeit und ihrer Inanspruchnahme weiter nachzugehen.

Alle Referate sind ab Herbst 2025 in einem Tagungsband in der Reihe „Visuelle Kultur. Studien und Materialien“ (Waxmann-Verlag) nachzulesen. 

 

Tagungsprogramm:

Einführung: Ulrich Hägele (Kommission Fotografie der DGEKW)

Panel I: Inszenierungen und Instrumentalisierungen des Ländlichen

  • Elisabeth Fendl (Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa, Freiburg): Die Entdeckung des Egerlandes durch die Fotografie
  • Stefan Zimmermann (Stiftung Freilichtmuseum am Kiekeberg, Hamburg): Making of Lüneburger Heide. Die fotografische Dokumentation des Wandels einer Kulturlandschaft durch die Fotografen Max Broders und Oleg Woinoff in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
  • Nathalie Dimic (Köln): Rauchende Schlote und bäuerliches Leben im Ruhrgebiet. Fotografien der Lichtbildwerkstatt Hehmke-Winterer aus den 1930er Jahren und ihre politische Indienstnahme
  • Helena Pirttisaari-Sundström (Universität Helsinki): Die Sehnsucht und das Fremde: Die ostkarelischen Landschaften in den Fotografien finnischer Grenztruppen während des Fortsetzungskrieges (1941–1944)
  • Andreas Eiynck (Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen, LWL, Münster): Flammen und Gesichter – Westfalen am Herdfeuer

Panel II: Das Ländliche als das Fremde – Distanzierende Blicke

  • Anne Peiter (Université de La Réunion): „Die Schweiz Afrikas“ vor deutschen Linsen. Ruandisches Landleben zwischen kolonialen Bild-Stereotypen und Genozid
  • Thomas Kühn (Museum für Alltagskultur der Griesen Gegend und Alte Synagoge Hagenow): Stadt – Land – Urwald. Ansichtskarten aus Indien und die visuelle Konstruktion kolonialer Räume
  • Matthias Thaden (Museum Europäischer Kulturen, Berlin): Fotos vom Balkan. Die Sammlung Gustav-Adolf Küppers am Museum Europäischer Kulturen – Kontexte, Motive, Leerstellen
  • Victoria Mummelthei (Freie Universität Berlin): Gegenräume im Grün: Heterotopien des Ländlichen in 'Far Cry 5'

Panel III: Perspektiven auf ländliche Lebens- und Arbeitswelten

  • Marcel Brüntrup (Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen, LWL, Münster): Ländlichkeit in bäuerlichen Familienfotoalben
  • Markus Köster (LWL-Medienzentrum für Westfalen, Münster): Ein Dorf und seine Bewohner im „Dritten Reich“ – Fotografien von Ignaz Böckenhoff
  • Valerie-Therese Taus (Graz): Tausche Milchkanne gegen Gummistiefel: Die Sennerin im Wandel des fotografischen Blicks
  • Margreet van der Burg (Wageningen University): Discrepancies and connections in rural photography and iconography: portrayal of normalized or ideal intersectional gender relations

Panel IV: Das Ländliche als Sehnsuchtsort – Aneignungen

  • Eberhard Wolff (Universität Basel): Dies- und jenseits des Klischees. Blicke des sozialistisch sozialisierten, bürgerlich-städtischen Fotoreporters Hermann Freytag (1908–1972) auf das Ländliche
  • Maria Daldrup (Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Oer-Erkenschwick): „Aus grauer Städte dunklen Mauern“. Arbeiter:innenjugendbewegte Fotografien des ländlichen Raums
  • Barbara Stambolis (Münster): Fotos aus einem ländlichen Zufluchtsort: jüdische Deutsche in Erinnerung an ihre verlorene Jugend

Kategorie: Veranstaltungen

Schlagworte: Kathrin Schulte · Tagung