Margreet van der Burg schloss das Panel mit einer intersektionalen Analyse von ländlichen Ikonografien. Sie untersuchte, wie Geschlecht, Klasse und Ethnizität in visuellen Darstellungen ländlicher Umgebungen ineinandergreifen und wie Spannungsfelder wie Tradition und Moderne in die Darstellungsweisen verwoben sind.
Eberhard Wolffs Beitrag über den sozialistisch geprägten Fotografen Hermann Freytag leitete das vierte Panel „Das Ländliche als Sehnsuchtsort – Aneignungen“ ein. Wolff zeigte, dass Freytags Fotografien ein dynamisches und modernes Bild des Ländlichen vermitteln. Freytag reflektierte technische Entwicklungen und den Austausch mit städtischen Lebensbereichen und hinterfragte klischeehafte Vorstellungen von Tradition und Naturverbundenheit. Maria Daldrup thematisierte die Wanderungen der städtisch geprägten Arbeiter:innenjugendbewegung anhand von Alben und Fahrtenbüchern aus den 1920er bis 1950er Jahren. Die Fotografien und Bildbeschriftungen in den Alben zeigen die Aneignung des Ländlichen als Erholungsraum und zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit den dortigen Lebensbedingungen. Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von Barbara Stambolis, die die Fotografien jüdischer Jugendlicher aus der Hachschara-Bewegung analysierte. Auf speziellen Bauernhöfen wie beispielsweise dem Gutshof Bzrezno in Niederschlesien bereiteten sich jüdische Jugendliche aus dem städtisch-bürgerlichen Milieu auf ihre Emigration nach Palästina vor. Die Fotoalben, die sie in der Zeit ihres Aufenthaltes auf dem Land erstellten, spiegeln eine ganz spezifische Sicht auf ihre Umgebung, die einerseits geprägt war durch ihre städtisch-bürgerliche Herkunft, auf der anderen Seite auch durch ihre Reaktionen auf Diskriminierung und Unterdrückung.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Referent:innen zahlreiche Analysen, Fragestellungen und Herangehensweisen präsentiert haben, die sich bei der Frage nach den Konstruktionen und Konstruiertheiten des Ländlichen als sinnvoll und virulent erwiesen haben. Vor allem die Beschäftigung mit den historischen Wurzeln der ‚Blicke‘ auf das Land und seine Bewohner, waren gewinnbringend und anschlussfähig für weitere Diskurse (KI, Nationalsozialismus, Postkolonialismus …). Die vier Panels spiegelten bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze und Themen deutlich wider, dass Fotografien vom Land und seinen Bewohner:innen – seien sie nun von den Landbewohner:innen selbst oder von Außenstehenden gemacht worden – mehr sind als der Nachhall städtisch-bürgerlicher Werte, Normen und Deutungshorizonte. Letztere – auch das hat die Tagung gezeigt – wirken aber nicht nur in theoretischen Konzepten (P. Bourdieu), sondern auch im Sammeln und Ausstellen der Archive und Museen bis heute fort. Die Tagung hat Lust gemacht, der Bandbreite an fotografischen Konzepten von Ländlichkeit und ihrer Inanspruchnahme weiter nachzugehen.
Alle Referate sind ab Herbst 2025 in einem Tagungsband in der Reihe „Visuelle Kultur. Studien und Materialien“ (Waxmann-Verlag) nachzulesen.
Tagungsprogramm:
Einführung: Ulrich Hägele (Kommission Fotografie der DGEKW)
Panel I: Inszenierungen und Instrumentalisierungen des Ländlichen
- Elisabeth Fendl (Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa, Freiburg): Die Entdeckung des Egerlandes durch die Fotografie
- Stefan Zimmermann (Stiftung Freilichtmuseum am Kiekeberg, Hamburg): Making of Lüneburger Heide. Die fotografische Dokumentation des Wandels einer Kulturlandschaft durch die Fotografen Max Broders und Oleg Woinoff in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
- Nathalie Dimic (Köln): Rauchende Schlote und bäuerliches Leben im Ruhrgebiet. Fotografien der Lichtbildwerkstatt Hehmke-Winterer aus den 1930er Jahren und ihre politische Indienstnahme
- Helena Pirttisaari-Sundström (Universität Helsinki): Die Sehnsucht und das Fremde: Die ostkarelischen Landschaften in den Fotografien finnischer Grenztruppen während des Fortsetzungskrieges (1941–1944)
- Andreas Eiynck (Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen, LWL, Münster): Flammen und Gesichter – Westfalen am Herdfeuer
Panel II: Das Ländliche als das Fremde – Distanzierende Blicke
- Anne Peiter (Université de La Réunion): „Die Schweiz Afrikas“ vor deutschen Linsen. Ruandisches Landleben zwischen kolonialen Bild-Stereotypen und Genozid
- Thomas Kühn (Museum für Alltagskultur der Griesen Gegend und Alte Synagoge Hagenow): Stadt – Land – Urwald. Ansichtskarten aus Indien und die visuelle Konstruktion kolonialer Räume
- Matthias Thaden (Museum Europäischer Kulturen, Berlin): Fotos vom Balkan. Die Sammlung Gustav-Adolf Küppers am Museum Europäischer Kulturen – Kontexte, Motive, Leerstellen
- Victoria Mummelthei (Freie Universität Berlin): Gegenräume im Grün: Heterotopien des Ländlichen in 'Far Cry 5'
Panel III: Perspektiven auf ländliche Lebens- und Arbeitswelten
- Marcel Brüntrup (Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen, LWL, Münster): Ländlichkeit in bäuerlichen Familienfotoalben
- Markus Köster (LWL-Medienzentrum für Westfalen, Münster): Ein Dorf und seine Bewohner im „Dritten Reich“ – Fotografien von Ignaz Böckenhoff
- Valerie-Therese Taus (Graz): Tausche Milchkanne gegen Gummistiefel: Die Sennerin im Wandel des fotografischen Blicks
- Margreet van der Burg (Wageningen University): Discrepancies and connections in rural photography and iconography: portrayal of normalized or ideal intersectional gender relations
Panel IV: Das Ländliche als Sehnsuchtsort – Aneignungen
- Eberhard Wolff (Universität Basel): Dies- und jenseits des Klischees. Blicke des sozialistisch sozialisierten, bürgerlich-städtischen Fotoreporters Hermann Freytag (1908–1972) auf das Ländliche
- Maria Daldrup (Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Oer-Erkenschwick): „Aus grauer Städte dunklen Mauern“. Arbeiter:innenjugendbewegte Fotografien des ländlichen Raums
- Barbara Stambolis (Münster): Fotos aus einem ländlichen Zufluchtsort: jüdische Deutsche in Erinnerung an ihre verlorene Jugend