Fotostrecke zum Krieg gegen die Ukraine: die Welt im Blick behalten

23.07.2024 Niklas Regenbrecht

Cover: Graugold. Magazin für Alltagskultur 4, 2024.

Elisabeth Timm

Was hat eine Fotostrecke zum Krieg gegen die Ukraine in einem Magazin für Alltagskultur zu suchen, das sich Westfalen-Lippe widmet? Warum ist auf der Titelseite nichts Westfälisches zu sehen, sondern Hryhorii, ein trauernder junger Mann in Kyiv, der eben erfuhr, dass sein Sandkastenfreund getötet wurde? – Weil wir als Wissenschaftler:innen die Welt und Menschen aus guten Gründen nicht immer so vorstellen und einteilen können, dass es spontan vertraut und bekannt wirkt.

Seit 2021 darf ich gemeinsam mit Christiane Cantauw Graugold herausgeben. Wir haben dieses Magazin erfunden, weil ein neues Medium zur Vermittlung unserer fachlichen Inhalte dringend gebraucht wurde: Die Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen, gegründet 1928 als „Volkskundliche Kommission“ des damaligen Provinzialverbands, und das Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Universität Münster, gegründet 1954 als „Volkskundliches Seminar“ an der Universität Münster, sind zwei wissenschaftliche Einrichtungen, die in ihrer Gründungszeit Ausdruck nationalistischer und völkischer Ideen von ‚Kultur‘ waren. Zwar befassten sie sich vorgeblich mit ‚Region‘, einer vermeintlich harmlosen Kategorie, die aber vom damaligen Provinzialverband ebenso wie vom ersten Inhaber des Volkskundelehrstuhls heimat- und volkstümelnd akzentuiert und verbreitet wurde. ‚Heimat‘ ist, anders als viele meinen, kein unwillkürlich vorhandener Teil einer ‚Identität‘ von Menschen. Jedes Mal wenn wir in unsere Archive gehen und anschauen, was Politiker:innen, Fachleute aller Disziplinen, staatliche und kommunale Behörden, Forschungs- und Vermittlungseinrichtungen wie Volkshochschulen oder Museen seit dem 19. Jahrhundert zu ‚Heimat‘ publiziert, vorgetragen, ausgestellt und finanziert haben, wird klar, in welcher Weise ‚Westfalen‘ als Identitätsangebot mobilisiert wurde.

Das bedeutet nicht, dass Leute, die sagen oder empfinden, dass ‚Westfalen‘ ihre ‚Heimat‘ ist, falsche Gefühle haben. Das bedeutet aber, dass Forschungs- und Vermittlungseinrichtungen wie eine landeskundliche Kommission oder ein Universitätsinstitut für solche Gefühle keine wissenschaftlichen Belege oder Beweise liefern können. Und es bedeutete für uns auch, dass wir uns in unserer Forschungs- und Vermittlungsarbeit von Heimattümelei und naiven Vorstellungen von ‚Region‘ verabschiedet haben. Stattdessen entwickeln wir neue Perspektiven, die hergebrachte, vertraute, aber eben auch willkürliche und oft  ausschnitthafte, verfälschende Präsentationen des historischen oder heutigen ‚Westfalen‘ durchkreuzen. In der aktuellen Ausgabe von Graugold. Magazin für Alltagskultur tun wir das unter anderem mit einer aktuellen Fotostrecke zum Krieg gegen die Ukraine. Wir haben die Fotografen Vsevolod Kazarin (Kyiv) und Sebastian Wells (Berlin) beauftragt, für die Ausgabe 2024 ein Bildkonzept zum Thema „Ukraine everyday, here and there“ zu entwickeln. Sie haben 2023 in Kyiv und Berlin fotografiert.

Auf den ersten Blick kann man nur wenige der Fotos und Menschen diesen Orten zuordnen, diese Unklarheit schafft Fragen und Verbindungsmöglichkeiten und stört bequeme Einteilungen und Abgrenzungen. Die Bildunterschriften stehen auf einer separaten Seite, nach dem letzten Foto, dort kann man sich informieren. Aber das Fragezeichen vom Betrachten der Bilder – wer ist das und wo und warum ist das hier abgedruckt? – geht trotzdem nicht mehr ganz weg. Mit solchen Elementen, und mit vielen anderen Rubriken und Beiträgen versuchen wir jedes Jahr, in unserem Magazin nicht nur wissenschaftliche Informationen zu vermitteln, sondern auch Eindrücke davon, auf welchen nur scheinbar selbstverständlichen Annahmen unsere spontanen Seh- und Lesegewohnheiten beruhen.