„Das richtige Ballspiel, an dem ich teilgenommen habe[,] war Fußballspiel. […] Ich war damals ein Junge von 12 bis 14 Jahren. In dem Alter waren viele bei uns am spielen. Wir spielten meist immer mit 5 bis 6 Mann. Dann wurde in einem grossen Kreis 5 bis 6 Löcher gemacht und in der Mitte kam ein grösseres Loch. Der Ball wurde nun von dem, der ihn bekam[,] getreten und er versuchte dann ihn möglichst in das Loch eine[s] seiner Kameraden zu bekommen. Wer nun den Ball in sein Loch bekam, musste in das mittlere Loch 5 oder 10 Pfennige[,] so wie es ausgemacht war, hineinzulegen [sic]. Hatte nun jeder Spieler den Ball in sein Loch gehabt, dann wurde der Ball von aussen wieder getreten, dass er in das mittlere Loch kam. Wem es denn nun gelungen war, der konnte sich das Geld aus dem Loch nehmen, dass [sic] hatte er dann gewonnen“. (MS00615)
Irgendwie erinnert diese Beschreibung an eine eigenwillige Adaption von Murmelspielen, weniger an das, was in den letzten Wochen während der Fußball-Europameisterschaft zu sehen war. Die Beschreibung ruft aber einen wichtigen und historisch aufschlussreichen Aspekt in Erinnerung: Rein formal ist es natürlich plausibel, jedes Spiel, in dem ein Ball mit dem Fuß getreten wird, als Fußball zu bezeichnen, so wie es der Bericht offenbar tut. Die sehr spezifische Vorstellung, die wir heute von „Fußball“ haben, versteht sich nicht von selbst, sondern ist Ergebnis eines vielschichtigen Definitions- und Kodifizierungsprozesses, der Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland in vollem Gange war.
„Fragt man nach dem Fußball im Kaiserreich“, so schreibt der Historiker Jörn Eiben in seiner Studie zu den Akzeptabilitätsbedingungen des Fußballs, „so steht man vor einem begrifflichen Problem. Der Begriff war dermaßen mehrdeutig, dass selbst die Zeitgenossen in der Frühphase des Fußballs ‚Wettspielverträge‘ abschließen mussten, um sich über die Form, in welcher sie sich messen wollten, zu verständigen.“ (S. 97) Im Großen betraf das die Unterscheidung „Rugby“/„Association“. Im Kleinen kursierten aber auch zahlreiche weitere Spielbeschreibungen unter dem Namen „Fußball“, die heute kaum noch erinnert werden, dem zitierten Bericht aber näher zu stehen scheinen. Eiben verweist etwa auf ein Spiel namens „Fußball im Kreise“ aus den 1880er Jahren. Ziel dieses Spiels war es, „den Ball aus einem Kreis mehrerer Mitspieler durch Fußkontakt hinauszubringen.“ „Fußball“, so resümiert Eiben, „bildete also Mitte der 1890er Jahre noch eine weite Kategorie, die verschiedene Varianten des regelhaften Zusammenspiels von Fuß, Hand und Ball versammelte. Diese Ausdehnung der Kategorie sowie die Varianz der Bezeichnungen ist insofern wichtig, als dass ‚Fußball‘ zu einem Sammelbegriff für ganz unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Körper geriet.“ (S. 100)
Vor diesem Hintergrund lässt sich um die Wende zum 20. Jahrhundert eine rasche Vereinheitlichung des Fußballverständnisses konstatieren. In einem Bericht vom Februar 1956, der sich auf den Zeitraum 1900–1914 bezog, hieß es bereits:
„Wir spielten Fußball in derselben Art, wie es jetzt schon Brauch ist. Hatten wir genügend Teilnehmer, so bildeten wir zwei Parteien mit zwei Toren. Im anderen Fall spielten wir auf ein Tor. Mädchen nahmen nicht teil.“ (MS00838)
Eine Generation später war Fußball im skizzierten Verständnis eine Selbstverständlichkeit. Für eine Gewährsperson, die 1923 geboren war, deren erste Fußballerinnerungen also wohl in die mittleren und späten 1930er Jahre verweisen dürften, merkte mit Blick auf Fußball, Handball und Hockey an: „Diese Spiele hier zu behandeln, erübrigt sich wohl, mir scheint, sie passen auch nicht in diesen Bericht.“ (MS01644) Dem folgten lediglich einige kurze Bemerkungen in einem ansonsten mit 66 Seiten sehr umfänglichen Bericht. Wie soll man das verstehen? Einerseits wohl so, dass bei den genannten Ballspielen der Ablauf, das Spielfeld und das Zählen der Punkte als bekannt vorausgesetzt wurden, während andere Spiele als erläuterungsbedürftig galten; andererseits scheint aber auch ein Vorverständnis dessen durch, was jemand als ‚volkskundlich relevant‘ erachtete – und das waren offenbar keine Spiele, die überall und überall gleich gespielt wurden.
Literatur
Eiben, Jörn: Das Subjekt des Fußballs. Eine Geschichte bewegter Körper im Kaiserreich. Bielefeld 2015.