Timo Luks
1912, so heißt es in einem der im Archiv der Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen vorhandenen Berichte, seien „plötzlich“ Fußballspiele aufgekommen, jedenfalls „unter Jungen“ (MS04069). Bis dato habe es im Ort nicht einmal Fußbälle gegeben. Im Sommer 1912 hätten sich erwachsene Jungen und Bauernknechte zu einer „vereinsähnlichen Gemeinschaft zum Zwecke des Fußballspielen[s] zusammenschlossen“. Er selbst, so erinnerte sich der berichtende Lehrer 1970, habe damals als Zehnjähriger zum ersten Mal einen Fußball gesehen:
„[U]nd somit wurde ich schon Dauerzuschauer bei Fußballspielen[,] als es solche selbst in den Städten noch kaum gab. Wie die Spieler selbst interessierte ich mich nur für kräftige Schüsse, ganz gleich, wohin der Ball flog. Es spielten immer nur zwei vereinseigene Mannschaften gegeneinander und von diesen hielten nur die beiden Torwarte und die jeweils zwei Verteidiger ihre Plätze inne, alle anderen rannten als geschlossene ‚Haufen‘ hinter dem Ball her, und immer stießen sie auch in Richtung des Tors der Gegenmannschaft; eine Kombination ließ sich aber nicht herausfinden, und ein ganz gewaltiger Schuß galt mehr als ein erzieltes Tor, obwohl die Anzahl der Tore über Sieg und Niederlage entschied. Seltsamerweise kamen bei diesem wilden Durcheinander unwahrscheinlich hohe Torergebnisse heraus. Denn wenn einem der geschlossenen ‚wilden Haufen‘ im Mittelfeld der Durchbruch gelang, dann wurden die Verteidiger, die man damals als ‚Becks‘ [sic] bezeichnete und [die] heute ‚Ausputzer‘ heißen, förmlich niedergewalzt. Es gab auch kein Faul [sic], kein Abseits und keinen Schiedsrichter. Dieser Verein erweckte bei den Schuljungen allergrößtes Interesse für das Fußballspiel.“
An dieser wunderschönen Passage fallen einige Dinge auf, die in historischer Perspektive aufschlussreich sind.
Erstens wird deutlich, dass es in der Frage, wie ein Spiel gespielt und was an ihm als gelungen wertgeschätzt wird, sehr unterschiedliche, historisch wandelbare Vorstellungen geben kann. Zwar gab es in den 1910er Jahren bereits formale und standardisierte Regeln, die in ihren Grundzügen auch breiter bekanntgemacht worden waren. Diese Regeln gaben aber nicht vor, was die einzelnen Spieler konkret zu tun hatten oder was ein Zuschauer als gelungenes Spiel ansah. Ein Regelwerk erlaubt eine Vielzahl von Ausgestaltungen und Spielabläufen, die dem Ganzen eine ganz eigene Anmutung geben. Der Tonfall des rückblickenden Berichts zeigt deutlich, dass selbst aus Sicht des Berichterstatters die Spielweise der 1910er Jahre ein halbes Jahrhundert später zu einem Kuriosum geworden war.
Zweitens bekräftigt der Bericht einen Aspekt, der auch in der fußballhistorischen Forschung herausgearbeitet wurde: die hohe Bedeutung des Zuschauens für die Verbreitung des Spiels und Spielens. Angesichts der Akzeptanzprobleme des Fußballs im Kaiserreich, angesichts der zahlreichen kritischen Stimmen gegenüber dem Spiel und seiner Verbreitung wurden von seinen Anhängern immer wieder Bekehrungsgeschichten veröffentlicht, also Berichte, in denen jemand über die eigene Anschauung zum Fußball gefunden hatte. Diese „quasi-religiösen Bekehrungsberichte“, so schreibt der Historiker Jörn Eiben, „sind zweifelsohne rhetorisch stark überformt. Dennoch machen sie auf einen bedeutsamen Aspekt der Akzeptabilitätsbedingungen des Fußballs aufmerksam. Da Fußballspiele prinzipiell beobachtbar waren, konnten jene, die bisher nur aus Erzählungen oder der Zeitung vom Fußball gehört hatten, davon überzeugt werden, dass es sich nicht um ein gefährliches Spiel handelte – oder aber genau dies bestätigt sehen.“
Drittens setzt der Bericht einen interessanten Akzent hinsichtlich der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Stadt und Land, die bekanntermaßen nicht immer konfliktfrei ist und gern auf polemische, stereotype Zuschreibungen zurückgreift. 1970, als Fußball bereits ein Massen- und erfolgreicher Zuschauersport war, erinnerte ein pensionierter Lehrer aus Lavesum daran, dass er im Dorf bereits 1912 Spielen zuschauen konnte, „als es solche selbst in den Städten noch kaum gab.“ Aber nicht nur das: Auf dem Dorf hatte man bereits begonnen, sich vereinsmäßig zu organisieren! Das allerdings fiel in eine Phase massiv nach oben schnellender Vereinsgründungen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, wie die Historikerin Christiane Eisenberg bereits vor einigen Jahren bemerkt hat.
Viertens zeigt der Bericht auch, dass die auf den Fußball gerichtete „Verdeutschungskampagne“ und der Kampf gegen die „Engländerei“, die mit der Übersetzung und Verbreitung der offiziellen Regeln in den 1890er Jahren Fahrt aufgenommen hatten, nicht reibungslos vorankam. Eisenberg schreibt: „In einer Zeit, in der nur wenige Englisch verstanden und die meisten in ihrem Vorstellungsvermögen überfordert waren, wenn sie hörten oder lasen, der ‚Half-Back‘ habe den Ball ‚gedribbelt‘ und zum ‚Forward‘ ‚gepasst‘ und dieser habe das ‚Match‘ dann durch ein ‚Goal‘ entschieden, konnte Fußball überhaupt nur als ‚deutsches Spiel‘ populär werden.“ Die Lavesumer Dorfjugend hatte allem Anschein nach aber wenig Verständnisprobleme mit „Becks“ und „Fauls“. Der Lehrer und frühere Zuschauer und Mitspieler auf einer Viehweide in Dorfnähe war offenbar mit einer rein orthografischen Eindeutschung zufrieden.
Literatur
Eiben, Jörn: Das Subjekt des Fußballs. Eine Geschichte bewegter Körper im Kaiserreich. Bielefeld 2015.
Eisenberg, Christiane: Fußball in Deutschland 1890–1914. Ein Gesellschaftsspiel für bürgerliche Mittelschichten, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 181–210.