Geschichte queeren: Queer Münster - eine andere Geschichte der Stadt

22.08.2023 Marcel Brüntrup

Die erste Homosexuellen-Demonstration Deutschlands am 29. April 1972 in Münster (Stadtarchiv Münster, Rosa Geschichten. Schwul-lesbisches Archiv | Udo Plein).

Leonie Figge

Queere Themen werden in der Geschichtsschreibung erst seit wenigen Jahrzehnten wahrgenommen und untersucht. Das liegt zum einen an der häufig eingeschränkten oder schwer zugänglichen Quellenlage, zum anderen aber auch an der Schwerpunktsetzung in der Forschung. Vor allem durch die Beschäftigung mit Protestkulturen hat sich der Blick der Wissenschaft auf gesellschaftliche Gruppen jenseits der Mehrheitsgesellschaft geweitet. Auch in Bezug auf die Münsteraner Stadtgeschichte zeigt sich dabei eine vielmals nicht bekannte Seite der Stadt: In Münster fand beispielsweise die erste Homosexuellendemonstration Deutschlands statt – sieben Jahre vor den ersten Christopher Street Day-Paraden (CSD) in Bremen, Köln und Berlin 1979. Am 29. April 1972 gingen etwa 200 Demonstrant:innen in Münster auf die Straße, um Themen der queeren Community wie Sichtbarkeit, Outing und Diskriminierung in die Stadtöffentlichkeit zu bringen. Bereits 2019 gab es im Stadtmuseum Münster eine Ausstellung zu den Anfängen der Homosexuellenbewegung Münsters, die sich insbesondere mit Anne Henscheid und Rainer Plein auseinandersetzte.

2022 hat sich der Tag dieser Demonstration zum 50. Mal gejährt. Zu diesem Anlass entstanden mehrere wissenschaftliche Projekte, die sich mit dieser anderen Seite der Stadt, ihren Protagonist:innen und ihren Themen auseinandergesetzt haben. Dazu gehören der Film “Münster 1972!”, in dem Mitglieder der LSBTIQ*-Community ihre Erinnerungen an und Sichtweisen auf die damalige und die heutige queere Community Münsters dokumentieren. Sie schildern Erfahrungen, Probleme und Herausforderungen, die damit einen ganz anderen, queeren Zugang zur Geschichte der Stadt und zum queeren Alltagsleben in den 1970ern und 1980ern eröffnen und dadurch queeres Leben sichtbar machen.

Außerdem entstand im Zuge einer Übung zur Historiographie von Queerness im Sommersemester an der Universität Münster unter der Leitung von Dr. Julia Paulus und Dr. Claudia Kemper die Ausstellung “Queer Münster - eine andere Geschichte der Stadt”. Sie wurde am 21.10.2022 im LWL-Museum eröffnet. Die Ausstellung basiert auf größtenteils noch unbearbeitetem Quellenmaterial aus den Archiven der queeren Vereine in Münster, wie dem KCM Schwulenzentrum Münster e.V.. Seit Ende 2022 war die Ausstellung nun bereits an verschiedenen Standorten, wie der Stadtbücherei und dem Theater, aber auch in verschiedenen Schulen in Münster und dem Umland zu sehen. Begleitend zur Ausstellung wurden für Schulklassen Workshops angeboten, für die ein Team aus Studierenden verantwortlich ist.

Die erste Homosexuellen-Demonstration Deutschlands am 29. April 1972 in Münster (Stadtarchiv Münster, Rosa Geschichten. Schwul-lesbisches Archiv | Udo Plein).

In der Ausstellung werden verschiedene Sichtweisen auf die queere Community in Münster und im Münsterland gerichtet, wie beispielsweise diejenige der Amtskirchen. Auch die Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Milieus und Konflikte innerhalb der Community werden beleuchtet. Ziel war es, Einblicke in die Kontexte der Demonstration sowie der queeren Bewegung und ihrer Aktivist:innen zu ermöglichen und die Geschichte Münsters so um einen Aspekt zu erweitern, der den Blick auf die vergangenen 50 Jahre facettenreicher macht. Dabei wird insbesondere die Rolle, die Heteronormativität in den 1970ern und 1980ern gespielt hat und vielfach heute weiterhin spielt, reflektiert und die Art und Weise hinterfragt, wie dies gesellschaftliche Vorstellungen von Leben, Familie und Identität geprägt hat und prägt.

Die Ausstellung zeigt unter anderem, dass sich die Homosexuellenbewegung der 1970er und 1980er Jahre zwar zu einer queeren Community zusammenfand, dass es innerhalb der Bewegung aber zahlreiche Unterschiede, Konfliktfelder und Untergruppen gab, die neben dem Ziel, ihren Lebensrealitäten mehr Sichtbarkeit und Akzeptanz zu verschaffen, unterschiedliche Absichten verfolgten. Eine Zusammenarbeit war deshalb nicht immer selbstverständlich. Als konfliktträchtig erwiesen sich beispielsweise die Themen Identität und Zugehörigkeit. Auch die Frage nach einer Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft und nach dem Grad einer solchen sowie der Einheitlichkeit einer gemeinsamen politischen Interessenvertretung war immer wieder strittig.

Die erste Homosexuellen-Demonstration Deutschlands am 29. April 1972 in Münster (Stadtarchiv Münster, Rosa Geschichten. Schwul-lesbisches Archiv | Udo Plein).

Dies lässt sich am Beispiel der Diskussion um einen Artikel konkretisieren, der 1982 in der westdeutschen feministischen Frauenzeitschrift Courage abgedruckt wurde, die auch in Münster rege rezipiert und diskutiert wurde. Der Beitrag von Rotraut Dichtermann unter dem Titel „Wenn Frau Glück hat, entspricht sie der Theorie“ schloss an einen Diskurs zur Bedeutung des „Lesbisch-Seins“, insbesondere innerhalb der feministischen Bewegung, an. Dieser war, wie auch der Artikel, beeinflusst durch die Slogans der Lesbenbewegung der 1970er Jahre wie „Feminismus ist die Theorie, Lesbianismus die Praxis“. Dichtermann stellte in ihrem Beitrag die These auf, dass jede Frau zumindest bisexuell sei und sie, durch andere Frauen begleitet, ihren Weg dorthin zurückfinden müsse. Demnach könne eine Feministin erst selbstbestimmt leben, wenn sie sich von ihrer „heterosexuellen Konditionierung“ löse. Die Reaktionen der Leserinnen zeigten allerdings, dass dieser Entwurf einer gemeinsamen Identität keineswegs für alle passend erschien: So antwortete eine Leserin ironisch „Raus aus der Zwangsheterosexualität, rein in den Zwangslesbianismus!“. Eine Zuordnung über eine weitere starre Identität wurde von den Kritikerinnen als nicht zielführend angesehen. Bei einigen Leserinnen löse die These von Dichtermann auch Frustration aus, so schreibt Leserin Claudia: „Warum finde ich mich in meiner eigenen Bewegung nicht wieder? Warum lässt die Frauenbewegung die Heterofrauen allein?“. Sie eröffnet damit die Diskussion um Zugehörigkeiten, Ausschluss und Ausgrenzungen aus einer Gruppe aufgrund der äußeren Zuschreibung bestimmter Merkmale – , obwohl trotz verschiedener Positionen doch ein gemeinsames Agieren möglich sein sollte. Es zeigte sich, dass die einzelnen Positionen weitaus disparater waren als gedacht, diese Auseinandersetzungen belegten aber auch das Ringen um einen Konsens und um politisches Gewicht. Die Antwort von Doris P. macht dies besonders deutlich: „Warum begrenzen wir uns ständig auch noch selbst? Warum gestehen wir uns nicht zu, mehr zu sein als Eins?“. Ein gemeinsamer, solidarischer Kampf, ein Füreinander und kein gegenseitiges Ablehnen aufgrund von Zuschreibungen als Ziel machte deutlich, dass die vorhandene Vielfalt für viele Frauen auch Chancen bedeutete.

Die Ausstellung „Queer Münster“ dokumentiert, dass Konfliktlinien nicht nur zwischen der queeren Community und der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch innerhalb der Bewegung verliefen – aber auch, dass die Stadt mehr und buntere Facetten hatte und hat, als vielen bewusst ist. Der im August stattfindende CSD und die Pride Week sorgen für die Sichtbarkeit der queeren Community Münsters und ihrer Anliegen und Herausforderungen. Ein guter Anlass, um sich mit der queeren Geschichte Münsters auseinanderzusetzen. Die Ausstellung ist vollständig unter https://queer-muenster.de/ online einsehbar und während des CSD am 26.8. wieder im Foyer des LWL-Museums für Kunst und Kultur zu sehen.

Quellen und Literatur:

KCM Schwulenzentrum Münster e.V.: Über uns, in: https://www.kcm-muenster.de/ueber-uns/. N.d.

Laufenberg, Mike: Queer Theory: identitäts- und machtkritische Perspektiven auf Sexualität und Geschlecht, in: B. Kortendiek et al. (Hrsg.), Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung, Geschlecht und Gesellschaft, Wiesbaden 2017.

Kastner, Jens/Susemichel, Lea: Zur Geschichte linker Identitätspolitik, in: APuZ, 69, 9-11/2019, S. 11-17.

Wenn Frau Glück hat entspricht sie der Theorie, in: Courage, 7 (1982), S. 17–19; Leserinnenbriefe zum Text „Wenn Frau Glück hat, entspricht sie der Theorie“, in: Diskussion: „Lesbisch – hetero“, in: Courage 7 (1982), S.31–32; Lesbeninfo (1976) 3/4 März, April, S.4, in: FrauenMediaTurm Köln, Z-L209.Sichern

Kategorie: Aus der Uni

Schlagworte: Ausstellung · Leonie Figge