Gezähnter Kolonialismus. Briefmarken als Träger kolonial-nationalistischer Botschaften.

25.04.2023 Marcel Brüntrup

Moritz Terwei

Im Zuge des Aufrufs „Koloniales Erbe vom Dachboden: angeschaut und nachgefragt“ der Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen des LWL in Kooperation mit dem Westfälischen Heimatbund e. V. haben Studierende der Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie im Rahmen einer Lehrveranstaltung der Universität Münster einige von privaten Leihgeber:innen zur Verfügung gestellte Objekte untersucht. Unter diesen befand sich ein Album mit US-amerikanischen Briefmarken.

Infolge des zunehmenden Postverkehrs gegen Ende des 19. Jahrhunderts erhielten Briefmarken als Postwertzeichen eine wachsende Bedeutung. Jenseits ihrer Funktion als Vorab-Zahlungsmittel für die Beförderung von Postsendungen entwickelte sich beispielsweise in den USA ein Sammlermarkt, der wirtschaftlich und kulturell zunehmend Bedeutung erlangte.  Auch in der Politik wurde das Potenzial der Postwertzeichen bereits im 19. Jahrhundert erkannt: Die millionenfach im Auftrag des Staates hergestellten Marken eigneten sich als staatlich gelenktes Massenmedium, über das bestimmte Bilder verbreitet werden konnten. Was haben aber Briefmarken mit dem Thema Kolonialismus zu tun?

Titelseite des Briefmarkenalbums. Länderspezifische Ausgabe Nr. 901a Vereinigte Staaten von Amerika (Foto: Moritz Terwei).

Ein Briefmarkenalbum und seine Provenienz

Bei dem untersuchten Briefmarkenalbum des Schaubek-Verlags, verlegt und bearbeitet von C. F. Lücke, handelt es sich um die Ausgabe Nr. 901a Vereinigte Staaten von Amerika von 1951. Das Album hatte Frau Martha C. mitsamt den amerikanischen Briefmarken von ihrer Freundin, Juliane H., in den 2000er Jahren geerbt. Juliane H.s Schwester war in den 1940er Jahren in die USA ausgewandert und stand mit der Familie in Deutschland in Briefkontakt. Vermutlich sind so die gesammelten US-Briefmarken an die Familie H. gelangt. Dies lässt sich auch aus den Poststempeln auf den Marken schließen, die unter anderem auf Chicago und New York verweisen. Nach dem Tod ihres Vaters hat die Freundin das Briefmarkenalbum verwahrt, bis es über Frau C. im Zuge des Projektaufrufes als Leihgabe an die Kommission Alltagskulturforschung gelangt ist.

„Kolumbus Serie“: Deutlich zu sehen sind die vorhandenen Briefmarken mit Poststempel, die Schwarz-Weiß-Abbildungen und der dreisprachige Text (Foto: Moritz Terwei).

Die sogenannte Kolumbus Serie im Kontext amerikanischer Kolumbusfeierlichkeiten

In dem Album befinden sich unter anderem Briefmarken der „Kolumbus Serie“ als Träger kolonial-nationalistischer Botschaften. Diese Serie wurde initiiert durch den amerikanischen Postminister John Wanamaker (1838–1922), der dieses Amt von 1889 bis 1893 bekleidete.  Während seiner Zeit als Postminister führte er unter anderem die kostenlose Post-Zustellung auf dem Land ein. Wanamaker erkannte auch das Potenzial der Briefmarken für den wachsenden Sammlermarkt, der laufend nach neuen Briefmarken(serien) verlangte und der dem United States Post Office Department (USPOD) nicht nur zu mehr Einnahmen, sondern auch zu einer steigenden Wahrnehmbarkeit als zentrale Regierungsbehörde verhelfen konnte. Anknüpfend an die Kolumbusfeierlichkeiten (1892–93) und beeinflusst von den Weltausstellungen brachte das USPOD 1893 die „Kolumbus Serie“ heraus, eine erste limitierte Auflage von Gedenkbriefmarken. Durch den Verkauf dieser Sonderausgabe sollte nicht zuletzt das jährliche Defizit des Post Office Departements von über fünf Millionen Dollar verringert werden. Einige der Briefmarkenmotive der „Kolumbus Serie“ basieren auf historischen Gemälden, beispielsweise von William Henry Powell, John Vanderlyn oder Francisco Jover y Casanova, um den Briefmarken einen (Bildungs-)Wert zu geben und sie für nationale und internationale Händler:innen und Sammler:innen attraktiv zu machen. Die Briefmarkenserie fand insbesondere bei philatelistischen Verbänden und Zeitschriften große Beachtung.

Thematisch orientierte sich die Serie an den Kolumbusfeierlichkeiten, die anlässlich des 400-jährigen Jubiläums der Anlandung von Christoph Kolumbus auf dem amerikanischen Kontinent stattfanden und mit Paraden und lokalpatriotischen Veranstaltungen in Boston, Baltimore und insbesondere in New York, Veranstaltungsort der Columbian Celebration, begangen wurde. Der Columbus Day wurde erstmals im Jubiläumsjahr 1892 von Präsident Benjamin Harrison als Feiertag ausgerufen. Die Weltausstellung 1893 in Chicago, die World’s Columbian Exposition, war der Höhepunkt der Feierlichkeiten und verlieh dem historischen Ereignis mit Skulpturen, Gemälden, Postkarten und Kolumbus-Souvenirs neben einer nationalen auch eine internationale Dimension. Zielsetzung war es, die Anlandung und Landnahme unter Leitung von Christoph Kolumbus als nationalen Gründungsmythos zu institutionalisieren. Die Besiedelung durch die Kolonialisten, die Christianisierung einheimischer Völker und eine aggressive Landnahme gegen Westen erfuhren auf diese Weise eine Legitimation. Die US-amerikanischen Kolumbusfeierlichkeiten reihten sich ein in zahlreiche Feiern und Denkmaleinweihungen, wie sie auch anderswo auf der Welt, beispielsweise in Genua oder in Spanien, Deutschland und einigen Ländern Lateinamerikas anlässlich des Centarios 1892 stattfanden. In ihnen drückt sich ein „weltumspannendes Überlegenheitsbewusstsein“ (Heydenreich, S. 65) christlicher Prägung aus. 

Die Briefmarken der „Kolumbus Serie“ im Schaubek-Album

Im untersuchten Schaubek-Album befinden sich die 1-Cent bis 10-Cent-Briefmarken dieser „Kolumbus Serie“, die von der American Bank Note Company gedruckt wurden. Die restlichen Briefmarken fehlen. Als Platzhalter dienen die gedruckten Schwarz-Weiß-Abbildungen. Der dreisprachige Text in Deutsch, Englisch und Französisch verweist auf eine internationale Kundschaft des Schaubek-Verlags. Die Briefmarken sind in einer Strichgravur gehalten. In den oberen Ecken werden die Jubiläumsjahre 1492 und 1892 hervorgehoben, direkt darunter der wellenförmige Schriftzug United States of America, der Nennwert und ein Bild, das etwa dreiviertel der Fläche einnimmt.

Die 1-Cent-Briefmarke stellt den auf das Meer schauenden Kolumbus ins Zentrum eines Kreises, der möglicherweise den Erdkreis symbolisiert. Der in prächtigen Kleidern gewandete Kolumbus und seine Gefährten symbolisieren europäischen Reichtum. Außerhalb dieser Randverzierung sitzen drei Angehörige indigener Völker Amerikas in einer unterwürfigen, besiegten und sich selbst schützenden Position. Sie sind im Gegensatz zu den Europäern leicht bekleidet, was ihre Machtlosigkeit weiter unterstreicht. Die rechte Person trägt eine Kopfbedeckung, die eher an einen Indigenen aus den Prärien Nordamerikas erinnert. Kleidung und Körperhaltung der beiden verschiedenen Gruppen bringen ein Machtgefälle zum Ausdruck, dem entsprechend die Native Americans als den Europäern unterlegen dargestellt werden, während Kolumbus als Bringer der Zivilisation präsentiert wird.

Ein-Cent-Briefmarke 1c Columbus in Sight of Land single der „Kolumbus Serie“ im Detail. Imperialistische und stereotype Darstellung der Native Americans und der Landnahme durch die Spanier (Smithsonian. National Postal Museum: 1c Columbus in Sight of Land single, Scott Catalogue USA 230, https://postalmuseum.si.edu/object/npm_1980.2493.1606 (Zugriff 30.12.2022), CC0).

Während die 1-Cent-Briefmarke eine visuelle Vorwegnahme ist und die Rechtfertigung der gewaltsamen Aneignung Amerikas repräsentiert, fokussiert die 2-Cent-Briefmarke die Bildung einer nationalen Identität durch Kolumbus’ Darstellung als Eroberer und seiner Ankunft auf dem amerikanischen Kontinent als nationales Ereignis. Kolumbus berührt hier den Boden mit seinem Schwert und beansprucht das Land für die spanische Krone. Dabei hisst er die spanische Flagge, die hier absichtlich unscharf dargestellt ist, um die Verbindung zwischen Kolumbus und der spanischen Inquisition und Krone zu trennen, und eine neue zwischen ihm und der Gründung der USA herzustellen. Der spanische Kolonialismus wird auf diese Weise zu einem nationalen Gründungsmythos umgedeutet.

Zwei-Cent-Briefmarke 2c Landing of Columbus single der „Kolumbus Serie“ im Detail. Vorbild war das im US-Kapitol hängende Gemälde von John Vanderlyn (Smithsonian. National Postal Museum: 2c Landing of Columbus single, Scott Catalogue USA 231, https://postalmuseum.si.edu/object/npm_1980.2493.1609 (Zugriff 30.12.2022), CC0).

Kolonisierung und Gründungsmythos

Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg sollte unter anderem auch die „Kolumbus Serie“ dazu beitragen, eine Identifikationsfigur für alle weißen, christlichen Amerikaner zu etablieren. Die Rechte und die Kultur der indigenen Bevölkerung Nordamerikas wurden dabei ausklammert. Das Bild einer machtvollen und einigen Nation mit einer jahrhundertealten Geschichte sollte über die Weltausstellung in Chicago auch international kommuniziert werden. Kolumbus wurde durch Denkmäler, die Weltausstellung, Briefmarken und andere Repräsentationen seiner Person als Nationalheld konstruiert und im kollektiven Gedächtnis Amerikas verankert. Die „Kolumbus Serie“ trug dazu bei, die Unterwerfung, Enteignung und Kolonisation der Native Americans, ihrer Kultur und ihres Landes als nationalen Gründungsakt umzudeuten. Durch die Briefmarkenserien und das Sammeln solcher Serien fanden Bilder, die diese kolonial-rassistische Sichtweise inszenierten, massenhafte Verbreitung und Eingang ins kollektive Gedächtnis der US-amerikanischen Bevölkerung. Die untersuchten Briefmarken der „Kolumbus Serie“ brachten diese international kommunizierten, kolonial-rassistischen Bilder schließlich bis nach Deutschland und verbreiteten dort – eingeklebt im Briefmarkenalbum – als koloniales Erbe in den Haushalten und im Gedächtnis der deutschen Bevölkerung kolonial-nationalistische Botschaften.

Literatur

Brennan, Sheila A. (2018): Stamping American Memory. Collectors, Citizens, and the Post. Ann Arbor: University of Michigan Press.

Heydenreich, Titus (2012): ‚Columbus I: Das Gedenkjahr 1892‘. In: Pim den Boer et al. (Hg.): Europäische Erinnerungsorte 3. Europa und die Welt. München: Oldenbourg Verlag, S. 64–70.

Loock, Kathleen (2014): Kolumbus in den USA. Vom Nationalhelden zur ethnischen Identifikationsfigur. Bielefeld: transcript Verlag.

Stoklund, Bjarne (1994): ‚The Role of the International Exhibitions in the Construction of National Cultures in the 19th Century‘. Ethnologia Europaea 24: 35-44.

Kategorie: Aus der Uni

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