Wenn das Pferd beim Nachbarn weidet – Grenzkonflikte zwischen Dahlinghausen und Harlinghausen

30.07.2024 Niklas Regenbrecht

Karte aus dem Jahr 1741, die das Grenzgebiet zwischen der preußischen Grafschaft Ravensberg und dem Fürstbistum Osnabrück zeigt. Unter anderem ist in der linken unteren Ecke der Abbildung die Bauerschaft Dahlinghausen zu erkennen, Foto: Niedersächsisches Landesarchiv Osnabrück, K 82 Angelbeck, Nr. 1h.

Sebastian Schröder

Zwischen den Ortschaften Dahlinghausen (heute Gemeinde Bad Essen) und Harlinghausen (heute Stadt Preußisch Oldendorf) verlief einst die Grenze zwischen dem Hochstift Osnabrück und der preußischen Grafschaft Ravensberg. Noch heute scheiden sich hier die Bundesländer Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. An der Grenze kam es einst zu teils erbitterten Auseinandersetzungen. Das sorgte natürlich sowohl beim Osnabrücker Bischof als auch beim preußischen König für Unmut. Und so entsandten die beiden Landesherren ihre Beamten an die Orte des Geschehens, um die diversen Delikte aufzuklären. Durch umfangreiche Archivunterlagen gelingt es, den Verbrechen an der Grenze auf die Spur zu kommen. Alltag und Leben vergangener Generationen werden somit wieder lebendig. Man erfährt interessante Details darüber, wie sich die Menschen damals stritten – aber ebenso, wie sie sich wieder vertrugen.

1744 kam es zwischen den Einwohnern von Dahlinghausen und Harlinghausen zu „Grentz Irrungen“, wie es wörtlich in den Akten der Kriegs- und Domänenkammer Minden heißt. Was war geschehen? Zur Beantwortung dieser Frage begab sich im Herbst des Jahres der preußische Oberforstmeister von Korff nach Harlinghausen, um den Fall genauer zu ergründen. Vor Ort stellte er fest, dass die Dahlinghauser widerrechtlich die Grenzzeichen versetzt und dadurch ihre Ländereien vergrößert hätten. Außerdem hätten die osnabrückischen Untertanen unbefugt drei Eichen gefällt.

Um den Konflikt zu lösen, schlug der Oberforstmeister vor, eine gemeinsame Grenzbegehung anzusetzen. Die Zeitgenossen sprachen von einem „Schnadgang“. Sowohl Vertreter Osnabrücks als auch Preußens sollten zugegen sein. Eigentlich ein gutes Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten, das bereits seit Jahrhunderten immer wieder als Konfliktlösungsstrategie angewandt wurde. Doch als Oberforstmeister von Korff im Oktober 1744 gemeinsam mit dem Amtmann des ravensbergischen Amtes Limberg, Johann Henrich Velhagen, und dem zuständigen Förster in Harlinghausen ankam, war seitens Osnabrücks oder Dahlinghausens niemand erschienen. Die Gegenseite hatte sich geweigert, der Einladung zu folgen. Anstatt aber unverrichteter Dinge von dannen zu ziehen, änderte von Korff seine Strategie. Nunmehr lud er die Dorfältesten aus Harlinghausen zu sich. Sechs alte Männer sollten ihm den korrekten Verlauf der Landesgrenze zeigen. Allerdings hatte die Sache einen Haken: Es handelte sich ausnahmslos um Bewohner Harlinghausens. Insofern war es möglicherweise eine relativ einseitige Perspektive, die von den osnabrückischen Widersachern leicht angezweifelt werden konnte.

Die betagten Herren waren sich jedenfalls einig, dass der Bach zwischen Harlinghausen und Dahlinghausen die Territorialgrenze darstelle. Zum einen zeigten die alten Harlinghauser Einwohner dem Oberforstmeister einen Grenzpfahl, der sich an dem sogenannten „Neuen Graben“ befand und auf dem der preußische Adler zu sehen war. Um die Richtigkeit ihrer Aussage zu untermauern, betonten die Bauern darüber hinaus, dass sie an der Ostseite des Bachlaufes Krebse fangen dürften. Nun muss man dazu jedoch wissen, dass das Recht des Krebsfanges nicht unumstritten war. So war ein Harlinghauser Bauer beim Fischen von einem Dahlinghauser Einwohner gefangen genommen und zum osnabrückischen Amt Wittlage gebracht worden.

Vom Ergebnis der Zeugenbefragung unterrichteten die preußischen Landesbehörden mit Sitz in Minden unverzüglich ihren Kollegen auf Seiten Osnabrücks. Ein Antwortschreiben ließ einige Zeit auf sich warten. Als diese im Frühjahr 1745 dann schließlich eintraf, bestritten die osnabrückischen Amtleute zu Wittlage darin alle Vorwürfe, die ihren Untertanen zu Last gelegt wurden. Zum einen würde man den Harlinghausern das Recht des Krebsfangs nicht gestatten. Zum anderen sei der Ort, an dem Dahlinghauser die drei Eichen geschlagen hätten, osnabrückisches Territorium, die Fällung dementsprechend rechtens. Des Weiteren würden die Harlinghauser ihrerseits selbst sträflicherweise in Dahlinghausen einfallen und „mit starker Mannschaft“ widerrechtlich Holz fällen.

Zwischen den Behörden entwickelte sich in der Folge sozusagen ein Kampf mit der Feder: Zahlreiche Schriftstücke wechselten zwischen Minden und Osnabrück beziehungsweise den Ämtern Limberg und Wittlage hin und her. Jede Partei sah sich im Recht; zu einer Annäherung kam es deshalb nicht – Friedenschließen erwies sich als gar nicht so einfach. Unterdessen erreichte die Kontroverse vor Ort offenbar eine neue Dimension. Zwischen den Dahlinghausern und Harlinghausern sei im Frühjahr 1745 eine „hefftige Schlägerey ausgebrochen“, wie die Beamten eher beiläufig notierten. Großes Interesse zeigten die Landesbehörden jedoch nicht an einer Aufarbeitung dieses blutigen Scharmützels. Die landesherrlichen Räte waren vielmehr damit beschäftigt, rechtliche Gutachten und Archivquellen zusammenzutragen, um die Stellungnahmen des Gegners zu entkräften. Der eigentliche Grund des Konflikts geriet zunehmend in den Hintergrund.

Das merkten selbstverständlich auch die Menschen vor Ort, die sich im August 1745 abermals an ihre Obrigkeit wandten – denn eine Lösung für ihr Problem gab es ja noch immer nicht. Außerdem klagten die Harlinghauser über neuerliche Übergriffe der Dahlinghauser: Des Nachts hätten die Bauern aus dem Osnabrücker Land ihre Pferde in preußischem Gebiet gehütet und dadurch das Getreide zerstört. Die Harlinghauser fackelten daraufhin nicht lange. Sie schritten selbst zur Tat und nahmen ihren ungeliebten Nachbarn ein Pferd weg. Das ließen sich die Dahlinghauser ihrerseits nicht gefallen und führten vier Pferde über die Grenze.

Die Schilderung könnte an dieser Stelle noch ewig fortgeführt werden. Im Grunde glichen sich die Grenzverletzungen sowie die anschließenden Reaktionen. Ausgangslage von Auseinandersetzungen waren häufig Feld- oder Forstvergehen, die für den modernen Betrachter als gar nicht so gravierend erscheinen. Ist es wirklich schlimm, wenn mal ein Baum gefällt wird oder ab und an das Vieh die Grenze quert? Für die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts war die Antwort eindeutig: Ja! Denn die Existenzgrundlage der Menschen erwies sich damals als äußerst prekär. Viele konnten eben nicht großzügig über derartige Verstöße hinwegsehen. Zunächst reagierte die ländliche Bevölkerung mit Selbstjustiz. Das gegenseitige Pfänden von Tieren oder Objekten lässt sich häufig beobachten. Erst in einem späteren Schritt erfuhr die Obrigkeit von den Nachbarschaftsstreitigkeiten. Einerseits versuchten die Behörden, die Konflikte schriftlich beizulegen. Andererseits waren Schnadgänge ein häufig gewähltes Mittel zur Streitschlichtung. Darüber hinaus zeigt sich, dass Grenzauseinandersetzungen viel über Leben und Alltag im 18. Jahrhundert verraten. Die Schriftzeugnisse und Prozessunterlagen sind ein Schlüssel, um das gesellschaftliche Miteinander besser ergründen und verstehen zu können.

 

Quellen:

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 3748: Grenzstreitigkeiten zwischen der Grafschaft Ravensberg und dem Fürstentum Osnabrück – Band 5, 1728–1744; Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 3749: Grenzstreitigkeiten zwischen der Grafschaft Ravensberg und dem Fürstentum Osnabrück – Band 6, 1746–1785.

Die bisherigen Teile der Serie zur Kriegs- und Domänenkammer Minden:

Ein Dickicht voller Alltagskultur: Die preußischen Kriegs- und Domänenkammern in Westfalen im 18. Jahrhundert

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