Großer Kreuzweg und Hessenutjagd. Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen (1606–1678) und die Kreuzverehrung in Coesfeld

06.06.2023 Marcel Brüntrup

Das 'Coesfelder Kreuz' in der Lambertikirche nach der Kirchenrenovierung 2022.

Andreas Eiynck

Seit dem Mittelalter wird in der Lambertikirche in Coesfeld ein großes Gabelkreuz aus dem 14. Jahrhundert verehrt. Es soll eine Reliquie des Kreuzes Christi enthalten. Nach einer alten Überlieferung übergab Karl der Große den Kreuzpartikel an Liudger, den Missionar und späteren Bischof von Münster, der als Gründer der ersten Kirche in Coesfeld gilt. Über ihn sei das wertvolle Stück nach Coesfeld gelangt.

Die 'Große Kapelle' an der Holtwicker Straße.

Schon für das späte Mittelalter sind in Verbindung mit dem Kreuz Ablässe und Stiftungen, wundersame Gebetserhörungen und Umzüge durch die Stadt und das Kirchspiel belegt. In der Reformationszeit ging die Kreuzverehrung aber stark zurück. Der Pfarrer an St. Lamberti, Heinrich Hoebing, sah sie als „Götzendienst“ an und forderte, das Kreuz zu vernichten. 1578 verließ er Coesfeld und trat 1592 zum reformierten Bekenntnis über. In typisch calvinistischer Manier kritisierte Hoebing das aus seiner Sicht törichte Volk, das sich von der Berührung und dem Umtragen des Kreuzes Segen für Land und Leute verspreche. Die Kreuzwallfahrten würden für Trinkgelage, Tanz und Spiel bis hin zum Ehebruch missbraucht.

Im Dreißigjährigen Krieg besetzten 1633 die protestantischen Hessen Coesfeld und richteten die beiden Pfarrkirchen für den reformierten Gottesdienst ein. Altäre und Heiligenfiguren wurden entfernt, so auch das Kreuz, mit dem die hessischen Soldaten im Februar 1634 außerdem Schabernack getrieben haben sollen. Erst ein Jahr später gelangte es wieder in die Hände katholischer Bürger. Sie stellen die Kreuzreliquie sicher und versteckten das Kreuz auf einem Dachboden.

Blick in die 'Große Kapelle'.

Auch nach dem Westfälischen Frieden hielten die Hessen Coesfeld als Pfand besetzt. Erst 1651 konnte der neue Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen sie mit der Zahlung von 30.000 Talern zum Abzug bewegen. Zur Erinnerung an dieses Ereignis und die damit verbundene Rekatholisierung der Stadt stiftete er eine feierliche Prozession um die Festungswälle, die als „Hessen-Utjagd“ in die Annalen der Stadt einging. Ein Jahr später ließ der Bischof in der Lambertikirche zwei neue Seitenaltäre und einen Kreuzaltar aufstellen. Damit rückte das Kreuz wieder in den Mittelpunkt von Kirche und Stadt.

Fürstbischof von Galen errichtete damals in Coesfeld eine große Landesfestung, die Ludgerusburg, und baute die Stadt zur Hauptstadt seines Fürstbistums aus. Damit verbunden war auch eine Förderung der katholischen Frömmigkeit als Teil der absolutistischen Staatspropaganda. Eine alte Flurprozession mit dem Kreuz um die Feldflur der Stadt am Pfingstdienstag wurde vom Bischof wiederbelebt und neu ausgestaltet.

Blick vom 'Großen Kreuzweg' auf die 'Kleine Kapelle'.

Nordwestlich der Stadt ließ er einen neue Prozessionsweg in gradliniger Trassenführung mit vier Eckpunkten anlegen. Den Ausgangs- und Endpunkt bildete die Lambertikirche. 1659 setzte der Fürstbischof die Grundsteine für zwei Kapellen auf den beiden nördlichen Eckpunkten des Weges. Die „Kleine Kapelle“ am äußersten Punkt des Weges entstand als zweiseitig offene Wegekapelle. Sie war dem Heiligen Maximus gewidmet. Das erhaltene Altarbild ist als Sandrelief gestaltet und zeigt die Geißelung Christi.

Die „Große Kapelle“, ein achteckiger Zentralbau, wurde 1666 vollendet. Sie wurde unter das Patrozinium  der Heiligen Maria gestellt. Als Architekt gilt der leitende Ingenieur des Fürstbischofs, Bernhard Spoede (1651–1680). Die Kapelle enthält im Inneren einen barocken Altaraufbau sowie Figuren, die sich auf die Kreuztradition in Coesfeld beziehen: Kaiser Karl den Großen als Beschaffer der Kreuzreliquie und die Heilige Helena, die der Legende nach das Kreuz Christi im Heiligen Land gefunden hat.

Altar in der 'Kleinen Kapelle' mit kleinem 'Coesfelder Kreuz' und der 'Muttergottes von Lourdes'.

1675 wurde der Kreuzweg mit 1.600 Eichenschösslingen als Allee angelegt. Die Bäume sollten den Pilgern Schatten spenden und in der Art der barocken Landschaftsgestaltung den Weg in der Landschaft markieren.

Entlang des Prozessionsweges standen mehrere Stationsbilder mit Sandsteinreliefs, auf denen Szenen aus der Passionsgeschichte dargestellt sind. Anfangs waren es in Coesfeld nur sieben Stationen. Sie folgten in Thematik und Ausgestaltung einer Beschreibung des Jesuiten Jodokus Andries (1588–1658), dessen Hauptwerk (Perpetua crux Jesu Christi) 1642 in Münster gedruckt wurde. Der in Coesfeld tätige Prämonstratensermönch Leonhard Goffine (1648–1719) definiert 1687 in seiner berühmten „Handpostille“ einen „Creutzweg“ dementsprechend als „sieben Stillstände“ und auch in der Zeit um 1700 ist in Coesfeld noch von den „sieben Fußfällen“ am Kreuzweg die Rede. Erst Anfang des 18. Jahrhunderts erweiterte man die Reihe auf 18 Stationsbilder. Da die ersten drei Stationen beidseitig mit Bildszenen ausgestattet wurden, kam man somit auf insgesamt 21 Passionsbilder entlang des Weges.

Bereits vor 1660 hatte der Fürstbischof die Prozession auf den Pfingstdienstag verlegt und dabei das Kreuz mitführen lassen. Diese „Kreuztracht“ wurde ein großer Erfolg und es ist in dieser Zeit von knapp 15.000 Teilnehmer:innen die Rede. In seinem Testament stiftete Christoph Bernhard von Galen noch eine weitere Prozession mit dem Kreuz am Fest Kreuzerhöhung (14. September), die 1683 zum ersten Mal stattfand.

Stationsbild aus dem 17. Jahrhundert an der 'Großen Kapelle'.

Im 18. und 19. Jahrhundert wurden die Prozessionen mit dem Kreuz in Coesfeld kontinuierlich fortgeführt. 1756 feierte man unter Fürstbischof Clemens August von Bayern (1700–1761) die 950. Wiederkehr der Schenkung des Kreuzpartikels durch Karl den Großen und 1806 das tausendjährige Kreuzjubiläum. Zur 1050jährigen Wiederkehr kamen 1850 in 42 Prozessionen etwa 80.000 Pilger aus dem Münsterland und angrenzenden Gebieten zum Coesfeld Kreuz. Bei der nächsten Jubiläumsfeier 1902 zählte man in einer Festwoche etwa 15.000 Pilger. 1950 bei der 1150-Jahrfeier nahmen 10.000 Gläubige an der Pfingstmontagsprozession und über 15.000 am Großen Kreuzweg auf Pfingstdienstag teil.

Der Ablauf der Prozession verlief laut einem Bericht von 1897 auf folgende Weise: Am Pfingstmontag führte die „Prozession um die Wälle“ auf der Ringstraße einmal um die Stadt. Am Pfingstdienstag folgte die „große Kreuztracht“ über den im 17. Jahrhundert angelegten Kreuzweg. An der Kleinen Kapelle wurde die Predigt gehalten und an der Großen Kapelle das Hochamt gefeiert. Gegen Mittag zog die Prozession mit dem Kreuz wieder in die Lambertikirche ein.

Stationsbild aus dem frühen 18. Jahrhundert an der Borkener Straße.

1934, in der Anfangsphase des Nationalsozialismus, fand die zahlenmäßig größte Kreuzwallfahrt im 20. Jahrhundert mit über 10.000 Teilnehmern statt. Es war eine Machtdemonstration der KAB (Katholische Arbeiter-Bewegung), die im Jahr darauf verboten wurde. Während der NS-Zeit wurden die Prozessionen immer stärker behindert und im Zweiten Weltkrieg ganz verboten. Erst Pfingsten 1945 führte wieder eine Prozession durch die Stadt – eine Trümmerlandschaft, denn noch kurz vor Kriegsende war die Coesfelder Innenstadt bei mehreren Luftangriffen total zerstört worden. Das Kreuz hatte man jedoch rechtzeitig auf einem Bauernhof in Sicherheit gebracht.

Bis in die 1970er-Jahre erhielt sich der Pfingstdienstag in Coesfeld als lokaler Feiertag, aber die Zahl der Teilnehmer an der Kreuztracht ging kontinuierlich zurück. 1997 wurde beschlossen, die Prozession vom Pfingstdienstag auf den Sonntag nach dem Fest Kreuzerhöhung zu verlegen. Den weiteren Niedergang der Kreuztracht konnte diese Verlegung jedoch nicht aufhalten.

Literatur:

Georg Wagner: Volksfromme Kreuzverehrung in Westfalen von den Anfängen bis zum Bruch der mittelalterlichen Glaubenseinheit (= Schriften der Volkskundlichen Kommission des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe). Münster 1960.

Georg Wagner: Barockzeitlicher Passionskult in Westfalen (Forschungen zur Volkskunde 42/43). Münster 1967.

Daniel Hörnemann: Das Coesfelder Kreuz – 1200 Jahre Verehrung. Münster 2000.