„Noch heute hört man dort Stimmen“: Gruseliges aus der Motivkartei Märchen und Sagen

29.10.2021 Dorothee Jahnke

Die Motivkartei Märchen und Sagen im Archiv für Alltagskultur. Foto: Dorothee Jahnke.

Dorothee Jahnke

Die Tage werden kürzer und die Nächte gruseliger – Halloween steht wieder einmal vor der Tür. Was liegt da näher als eine Suche nach Gruseligem in der Motivkartei Märchen und Sagen?

Vor die gruseligen Sagenmotive muss allerdings eine Erläuterung zu ihrer Herkunft gestellt werden. Ursprünglich war die heute im Archiv für Alltagskultur verwahrte Sammlung Teil des 1936 in Berlin gegründeten und von Gottfried Henßen geleiteten Zentralarchivs der deutschen Volkserzählung. Das Zentralarchiv wurde 1938 vom „SS-Ahnenerbe“ übernommen. Es folgte eine Umbenennung in „Lehr- und Forschungsstätte für Märchen- und Sagenkunde“; neuer Leiter wurde Heinrich Harmjanz. Gesucht wurden fortan Belege für „eine Kontinuität des germanischen Mythensystems“ (Becker 2015, S. 27).

Nach dem Zweiten Weltkrieg erwirkte Henßen die Überführung der Bestände nach Marburg, benannte sie in „Archiv für Volkskunde“ um und erweiterte sie. 1960 gründete Gerhard Heilfurth an der Marburger Universität das Institut für Mitteleuropäische Volksforschung, dem die Archivbestände unter dem (alten) Namen „Zentralarchiv der deutschen Volkserzählung“ angegliedert wurden.

Der im Archiv für Alltagskultur verwahrte Teilbestand – die Motivkartei Märchen und Sagen – umfasst ausschließlich Erzählungen mit westfälischem Bezug. Die rund 1.700 Erzählungen sind in 12 Oberkategorien geordnet: „Teufel“, „Spuk, Gespenster“, „Hexen“, „Zauberer“, „Werwolf“, „Schätze“, „Aetiologisches Erzählgut“, „Legenden“, „Zaubermärchen“, „Tiermärchen“, „Märchen“ und „Schwänke“. Neben der eigentlichen Motivkartei – einem Zettelkatalog in zwei kleinen Schubladen – gibt es acht Archivkästen, in denen die Abschriften der jeweiligen Erzählungen verwahrt werden. Für die systematische Erfassung stellte das Zentralarchiv der deutschen Volkserzählung Formulare bereit, in denen unter anderem Angaben zu Region oder Ort, Einsender:innen, Erzähler:innen und bisherigen Veröffentlichungen gemacht werden konnten. Wurde die Erzählung mündlich überliefert und nicht aus der Literatur übernommen, gab es zudem eine besondere Angabe zur „Art der Aufzeichnung: Unmittelbar aus dem Volksmunde wortgetreu aufgeschrieben oder nach Stichworten zusammengestellt, nach der Erzählung später aus der Erinnerung aufgezeichnet, nach längerer Erinnerung aufgezeichnet? (Zutreffendes unterstreichen!)“. Ebenfalls abgefragt wurde die "innere Einstellung" der Erzähler:innen zur von ihnen erzählten Geschichte. 

Formularkopf der Abschrift von A 1035, „Klucke mät 'n Dutz Küken“, erzählt von der Bäuerin Frau Breuinck und aufgezeichnet von H. Bügener (1937). „Welche innere Einstellung hat der Erzähler zu der vorliegenden Geschichte?“ „Sie kann es nicht begreifen.“ Foto: Dorothee Jahnke.

Die für eine Beschriftung vorgesehenen Felder auf den Karteikarten sind auf das Nötigste beschränkt: In der Kopfzeile ist links die Kategorienummer, daneben die Ober- und gegebenenfalls Unterkategorie des Motivs angegeben. Rechts oben steht eine Signatur, anhand derer die jeweilige Abschrift gefunden werden kann. Maximal acht kurze Zeilen stehen für die Kurzbeschreibung der Erzählung zur Verfügung, eine weitere Spalte dient der Benennung von Urheber:in oder Einsender:in. Der Grund für diese spärlichen Angaben ist die Nutzung als Motivkartei: Nicht die literarische Ausschmückung der Sage, sondern ihr Kern steht im Vordergrund. Ob Brunnenbau, weiße Frau, schwarzer Hund, reuige Sünderin, Wiedergänger oder Grenzfrevler – das Anlegen der Kartei ermöglicht ein Nachverfolgen, Vergleichen und in manchen Fällen auch Verweise auf nahezu gleiche Erzählungen aus anderen Orten oder von anderen Erzähler:innen.

Allerdings ergibt die starke Reduzierung der Sagen teils kuriose Zusammenfassungen, etwa in der Kategorie „12. Spuk, Gespenster, Tiergestalten“: „Ein Mann wird von einer Glucke mit 12 Kücken verfolgt“ (A 1035). Diese Sage wurde von Heinz Bügener eingereicht, der in einem Findbuch des Archivs für Alltagskultur auch als Zusammensteller zweier maschinenschriftlicher Sagensammlungen erwähnt wird: „Volkserzählungen aus dem Kreis Borken“, K 0342, 1920er Jahre, sowie „Sagen aus dem Kreis Coesfeld“, K 0343, gesammelt 1928/29.
 

Die Motivkarte von A 1035: „Ein Mann wird von einer Glucke mit 12 Kücken verfolgt“. Foto: Dorothee Jahnke.

Einige andere Zusammenfassungen aus der Motivkartei könnten als Plot von Horrorfilmen herhalten:

„In dem Brunnen zu Falkenhagen, einem ehem. Kloster, ertränkten die Nonnen ihre Mitschwestern, die sich dem sittenlosen Leben nicht einfügen wollten. Noch heute hört man dort Stimmen“ (A 491, K. Wehrhan; 33. Aetiologisches Erzählgut).

„Nachtmahr (ein schleimiges Tier) plagt ein Mädchen. Nimmt Messer und Gabel mit ins Bett. Altes Weib erscheint, bekommt seinen Wunsch erfüllt, verschwindet für immer“ (A 299, K. Wehrhan; 12. Spuk, Gespenster, Wiederkehrende Tote, Tiergestalt).

„Ein Ding, gross wie ein Hase, läuft neben dem Weg, als es angerufen wird, wächst es zur Grösse eines Kalbes, geht auf den Menschen los“ (A 934, Bügener; 12. Spuk, Gespenster, Tiergestalten).

„Eine weisse Frau, ehemaliges Stiftsfräulein, zu Hengsen findet nicht Ruhe, bis sie die Knöchlein ihres im Brunnen ertränkten Kindes gesammelt hat. Wird erlöst“ (A 841, Woeste, Greifswald; 16. Spuk, Gespenster, Wiederkehrende Tote).

Bei wenigen gruseligen Geschehnissen ist die harmlose Erklärung gleichzeitig der Kern der Sage: „Entlarvung eines Spuks an Vorskens Dornhecke. (Schaf)“ (A 992, Bügener; 19. Spuk, Gespenster). Anderes mag in der Kurzversion eher zum Schmunzeln verleiten: „Bei Wambel geht nachts ein weisser Esel um, manchmal ist der Weg ganz voll schwarzer Katzen“ (B 473; 12. Spuk, Gespenster, Tiergestalten) oder „Katze mit Dackelohren läuft vor den Leuten her, lässt sich aber nicht fangen. Als Nachbardorf erreicht, verschwindet Tier, als man um Hausecke kommt, steht da eine Frau“ (A 397, K. Wehrhan; 22. Hexen).
 

Die Karten für die zwei Sagen A 299 und A 934: Schleimige Nachtmahr und kalbsgroßer Hase. Foto: Dorothee Jahnke.

Für große Fragezeichen in den Köpfen der Leser:innen könnte dagegen die folgende Zusammenfassungen einer Sage zum Ursprung der Pest sorgen: „992 wurde in Bottrup die Pest geboren, ein Kind, das vorne wie ein Mensch, hinten wie eine Gans war. Alle, die es ansahen, bekamen die Pest, die von hier ihren Ausgang nahm“ (B 371; 36. Aetiologisches Erzählgut).

Natürlich gibt es auch zum Verbleib der Pest eine Motivkarte: „In Tecklenburg ist die Pest in einem Hause verkeilt, in Recke sitzt sie in einem Busch“ (B 210; 4. Spuk, Gespenster, Festbannen). Etwas mehr Verständnishilfe bietet in diesem Fall die Abschrift der Sage aus dem Zentralarchiv der deutschen Volkserzählung:

„In Tecklenburg im letzten Hause auf dem Weg nach Brochterbeck ist die Pest verkeilt. Wenn man den Keil herauszieht, kommt sie wieder los. In Recke sitzt die Pest unter einem Busch, beim Pfarrhause. Backesmôr, eine in den siebziger Jahren verstorbene Einwohnerin des Backhauses, das zum Pfarrhause gehörte, pflegte immer zu sagen, man solle den Busch ja nicht ausroden.“

Nicht Teil der Sage ist, wer die Pest wie verkeilt oder unter dem Busch ‚festgebannt‘ hat. Etwas verworren ist außerdem die Quellenangabe: Einsender war der Germanist und Volkskundler Karl Schulte-Kemminghausen, der diese und andere Sagen in der Zeitschrift des Vereins für rheinisch-westfälische Volkskunde veröffentlicht hatte (24. Jahrgang, 1927, S. 59). Als Erzähler ist ein anderer Wissenschaftler, nämlich „P[aul] Sartori“ angegeben, der wiederum als Quelle der Sage „Hrn. Pastor v. d. Becke in Tecklenburg, 1927“ nennt. 

Diese wenigen Zeilen bringen das enorme Interesse der frühen Volkskunde an Sagen zum Ausdruck, aber auch, welche Personen örtlich als Informant:innen herangezogen wurden. 

 


Weiterführende Literatur:
Becker, Siegfried: Das „Zentrale“ am Archiv für Erzählforschung. Gedanken zu alten Großprojekten und zur neuen Diskussion um die Mitte des Faches. In: Schmitt, Christoph (Hg.): Volkskundliche Großprojekte. Ihre Geschichte und Zukunft. Hochschultagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Rostock. Münster 2005. S. 63-72.
Becker, Siegfried: Volkskundliches Arbeiten mit archivalischen Quellen. In: Hans-Werner Retterath (Hg.): Zugänge. Volkskundliche Archiv-Forschung zu den Deutschen im und aus dem östlichen Europa. Münster 2015. S. 13-34.