Ein 111 Jahre altes Souvenir aus Hamburg: Hagenbecks Tierpark in Wort und Bild (Teil 1)

08.09.2023 Marcel Brüntrup

Ein Löwe im Prägedruck auf dem Umschlag der Broschüre sollte den exotischen Reiz des Tierparks hervorheben.

Kathrin Schulte

„Zur Erinnerung an meine Anwesenheit in Hamburg am 31. August 1912“ steht auf der ersten Seite der 60 Seiten umfassenden Broschüre, deren Besitzer laut Eintrag Rudolf Kronsbein hieß. Die 25mal 20 Zentimeter große, 60 Seiten umfassende, broschierte Publikation wurde zwischen 1910 und 1912 gedruckt. Der Umschlag besteht aus geprägtem, schwerem Papier mit der Aufschrift „Carl Hagenbeck’s Tierpark Stellingen Hbg.“. Unten links ist der Umschlag mit der eingeprägten Abbildung eines Löwen verziert. Insgesamt lassen sich deutliche Gebrauchsspuren am Umschlag und an den einzelnen Seiten feststellen.  Die Broschüre wurde im April 1988 mit der Signatur Fr 55 in die Bibliothek der Kommission Alltagskulturforschung inventarisiert. Leider lässt sich nicht mehr eruieren, ob sie Teil des Nachlasses einer Privatperson war oder infolge einer Schenkung oder Übernahme in die Bibliothek gelangte. Auch sind in den Findbüchern und Bestandslisten der Kommission keine weiteren Spuren von Rudolf Kronsbein zu finden.

Rudolf Kronsbein erwarb die Broschüre während eines Aufenthalts in Hamburg am 31. August 1912.

Bei dem Heft handelt es sich vermutlich um ein Souvenir, das Kronsbein von einem Besuch in Carl Hagenbecks Tierpark in Stellingen (heute Hamburg) 1912 mitbrachte. Durch das immerhin mindestens 111 Jahre alte Druckwerk lassen sich nicht nur das Selbstverständnis und die Arbeit des Tierparks, sondern auch die Selbstdarstellung in einem Werbemedium nachzeichnen. Zu Beginn der Broschüre wird auf sieben Seiten die Geschichte des Tierparks erläutert – auf Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch, was auf einen internationalen Geltungsanspruch des Tierparks verweist. Inhaltlich werden hier die Anfänge des Unternehmens Hagenbeck dargestellt, das sich innerhalb von rund fünfzig Jahren von einer Tierschau zu einem auf vielen Feldern agierenden Großunternehmen entwickelte. Die Erzählung in der Broschüre beginnt mit dem Erwerb einiger lebender Seehunde, die der Öffentlichkeit gegen Eintritt präsentiert wurden. Dies hatte Erfolg, weshalb Gottfried Hagenbeck eine immer größere Anzahl von Tieren kaufte und ausstellte. 1863 erwarb er für seine Tierschau schließlich ein Grundstück im Hamburger Stadtteil St. Pauli, drei Jahre später übernahm sein Sohn Carl das Geschäft. Dieser zog 1907 mit dem Tierpark nach Stellingen, damals preußisches Gebiet direkt vor der Metropole Hamburg, die zu der Zeit knapp 700.000 Einwohner:innen zählte. Heute ist Stellingen ein Stadtteil im Hamburger Bezirk Eimsbüttel. Der Umzug von St. Pauli nach Stellingen markiert einen Meilenstein in der Geschichte des Tierparks und steht dementsprechend auch am Beginn der ausführlichen Bilddokumentation der Broschüre: Gleich die erste Fotografie zeigt den alten Tierpark im Stadtgebiet und das noch leere Grundstück in Stellingen, auf der gegenüberliegenden Seite ist das Hauptgebäude des neuen Zoos abgebildet. Das Arrangement soll den Erfolg und Fortschritt des Unternehmens belegen.

Zu Beginn der Broschüre wird neben der Geschichte des Zoos in vier Sprachen auch das alte wie neue Gelände und somit eine Fortschrittserzählung präsentiert.

Hagenbeck schien ein Gespür für die Wünsche der Besucher:innen gehabt zu haben. Sein vielbeachtetes „Panorama-Konzept“, das eine gitterlose Tierhaltung ermöglichte und die Tiergehege wie Landschaftsszenerien der Herkunftsregionen inszenierte, ließ er sich sogar patentieren. Die Broschüre aus dem Besitz Rudolf Kronbeins bildet dieses „Panorama-Konzept“ ab und gibt Einblick in die Gehege zahlreicher exotischer Tierarten. Auch zeigt die Broschüre Eindrücke der „Japanischen Insel“, einem Areal mit Brücken und Torbögen, das japanische Landschafts- und Baustereotype aufnahm.

Das Buch ist Teil der Bibliothek der Kommission Alltagskulturforschung mit der Signatur Fr 55. Auf der linken Seite wird das Panoramakonzept des Tierparks präsentiert.

Auf den letzten beiden Seiten des Heftes sind Fotos der „Völkerschaustellung 1908: Ceylon“ und der „Völkerschaustellung 1909: Äthiopien“ zu sehen. Auf beiden Fotografien werden die Personen mit landestypischer Kleidung gezeigt. Die Abbildungen unterscheiden sich jedoch: Im Kontext der der Völkerschau Ceylon werden Strohhütten und Menschen bei ihren alltäglichen Tätigkeiten gezeigt. Es sind zudem Palmen und sogar ein Fluss zu sehen, die „landestypische“ Umgebung ist sehr präsent. Bei der Völkerschau Äthiopien stehen weniger Gebäude oder Landschaft, sondern vielmehr Zebras und Strauße im Vordergrund. Die gezeigten Menschen sind mit Speeren ausgerüstet, zudem werden Waffen gezeigt.

Solche Zurschaustellungen hatten im Hamburger Tierpark bereits eine jahrzehntelange Tradition: Seit 1875 waren bei Carl Hagenbeck Menschen aus anderen Weltregionen zu sehen. Für eine erste Veranstaltung dieser Art wurden Samen aus dem nördlichen Skandinavien engagiert, die mit ihren Rentieren das Interesse zahlreicher Besucher:innen weckten. Das auf Exotik, Schaulust und Rassismus beruhende Geschäftsmodell der Völkerschauen erwies sich als so gewinnbringend, dass Hagenbeck zahlreiche weitere Gruppen über Agenten und Impresarios anwerben ließ. Mit diesen Gruppen reiste er auch in andere Städte wie beispielsweise nach Münster. Im Tierpark in Stellingen konnten die Völkerschauen mit eigenen Arealen für große Gruppen von bis zu 100 Personen von Anfang an baulich integriert werden, einschließlich der Pflanzen und Bauwerke der dargestellten Regionen – was sich auch auf den Fotografien in der Broschüre widerspiegelt. Wurden anfangs noch Menschen bei ihrer Arbeit gezeigt, entwickelten sich die Zurschaustellungen von Fremden im Laufe der Zeit zu choreographierten Aufführungen; bei den „Ceylon-Schauen“ kamen beispielsweise Schlangenbeschwörer, Artist:innen und Tänzer:innen zum Einsatz, die vom Publikum und der Presse begeistert aufgenommen wurden. Zudem gab es Führungen durch die Areale: Besucher:innen konnten sich dort beispielsweise bei einem arabischen Barbier frisieren lassen, exotische Spezialitäten probieren oder Kunsthandwerk erwerben. Auf diese Weise wurde der Aufenthalt im Tierpark auch als Auslandsreise inszeniert.

Auf den letzten Seiten der Broschüre sind Bilder der „Völkerausstellungen“ der Jahre 1908 („Ceylon“, heute Sri Lanka) und 1909 (Äthiopien) zu sehen.

Die Perspektive der Menschen, die im Rahmen der Völkerschauen ins Deutsche Reich kamen, ist anders als die Reaktion der Presse und des deutschen Publikums kaum bekannt. Die Arbeitszeit, so lässt sich anhand der Veranstaltungsprogramme nachvollziehen, betrug zwischen acht und zehn Stunden. Neben der Arbeitsbelastung und fehlenden Privatsphäre infolge der ständigen Beobachtung durch das Publikum waren bei Hagenbeck mehrere Todesfälle aufgrund unterlassener Pockenschutzimpfungen oder schlechter Unterbringung zu beklagen.

Neben der Hamburger Bevölkerung und den Tourist:innen nutzten übrigens auch Wissenschaftler die Anwesenheit von Fremden für Ihre Zwecke. Professoren des Seminars für Kolonialsprachen und des Völkerkundemuseums besuchten mit ihren Studierenden die Vorführungen. Ob sie den wissenschaftlichen Nutzen des Besuchs der Präsentationen hinterfragten, die ja auf die Erwartungen des Publikums zugeschnitten waren und somit eher stereotype Bilder als die Realität wiederspiegelten, ist nicht belegt.

Im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg, sank die Beliebtheit der Völkerschauen, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass die „Aura des Exotischen“ und Fremden schwand, da die zur Schau gestellten Menschen außerhalb der Aufführungen am Alltags- und Nachtleben Hamburgs partizipierten. Sie trugen mittlerweile europäische Kleidung und hatten auch europäische Verhaltensweisen übernommen. Zum Entsetzen der Organisatoren verfügte beispielsweise eine Gruppe aus Neukaledonien 1931 über keinerlei traditionelle Kleidung, so dass für sie Südsee-Kostüme nach Vorbildern des Hamburger Völkerkundemuseums gefertigt werden mussten. 1932 schließlich stellte Hagenbecks Tierpark die Völkerschauen endgültig ein.

Die Broschüre ist aber nicht nur ein Beleg für die Völkerschauen, sondern beleuchtet auch die Geschichte der Zoologischen Gärten, in denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht Forschung und Artenschutz, sondern Schaulust und Überlegenheitsgefühle eine wesentliche Rolle spielten. Dazu bald mehr.

Literatur:

Fleige, Christin. “Die Völkerschauen im Westfälischen Zoologischen Garten Münster”. Münster 2023.

Klothmann, Nastasja: Gefühlswelten Im Zoo: Eine Emotionsgeschichte 1900–1945. Bielefeld 2015.

Rothfels, Nigel: Savages and Beasts: The Birth of the Modern Zoo. Baltimore 2002.

Thode-Arora: Hagenbeck: Tierpark und Völkerschau, in: Jürgen Zimmerer et. Al, Kein Platz an der Sonne: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Frankfurt/New York 2013, S. 244–256.

Teil 2: Ein Aufenthalt in Hamburg 1912: Tiere in Anzügen

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