Die Ärmel hochkrempeln: Die Kriegs- und Domänenkammer in Minden und die Impfung gegen die Pocken

19.09.2023 Kathrin Schulte

Sebastian Schröder

Die Pocken waren in der Frühen Neuzeit eine gefürchtete Krankheit. Kam es zum Ausbruch, starben nicht selten zahlreiche Menschen. Insbesondere Kinder raffte die Seuche dahin. Die landesherrlichen Behörden im preußischen Westfalen, also auch die Kriegs- und Domänenkammer in Minden, betrachteten diese Entwicklung mit großer Sorge. Schließlich oblag den Kammerräten unter anderem die Gesunderhaltung der Bevölkerung. Nur gesunde Bürgerinnen und Bürger konnten arbeiten, Steuern zahlen, sich vermehren – dementsprechend verwundert es kaum, dass das Medizinalwesen und die gesundheitliche Überwachung der Untertanen eine wichtige Rolle im Rahmen der Kammerverwaltung spielten.

Gleichwohl waren es anfänglich vor allem Pfarrer oder Schulmeister in den Dörfern und Städten, die erste Versuche mit dem Impfen oder der Inokulation (wie die Zeitgenossen zur Immunisierung sagten) gegen die Pocken vorantrieben. Die große Bedeutung der Pfarrerschaft beim Thema Impfen lässt sich beispielsweise hervorragend anhand der ravensbergischen Gemeinde Exter ablesen. In seinen Quartalsberichten Anfang Juni 1804 berichtete Medizinalrat Borges der Kriegs- und Domänenkammer in Minden von den rührigen Bemühungen des örtlichen Geistlichen Daniel Pemeier. Ein aus dem Rietbergischen stammendes armes Kind habe die Pocken in das Kirchspiel Exter eingeschleppt, recherchierte Borges. In kurzer Zeit seien vier weitere Heranwachsende infiziert gewesen, ehe Pemeier „die Inoculation auf das wärmste empfahl und mit seinen Kindern das erste Beispiel gab“. Nicht weniger als 121 Kinder immunisierte daraufhin der Medizinalrat – bei der relativ geringen Einwohnerzahl eine beachtliche Menge.

Darstellung der Kuhpocken, J. Pass, 1811 (Wellcome Collection London).

Neben Borges impfte auch der Herforder Arzt Bonorden in Exter – weitere 97 Kinder konnten so im Jahr 1804 geschützt werden. Drei Jahre später, 1807, tobten die Pocken erneut im Amt Vlotho. Abermals konnte Pfarrer Pemeier hinsichtlich seines Engagements gute Nachrichten verkünden: Aufgrund seines Zuspruchs hätte der Mediziner Bonorden 117 Heranwachsende immunisiert. Somit bilanzierte Pemeier: „Nunmehr sind alle Kinder der Exter Gemeine […] – 338 an der Zahl – vor dieser jetzt rings um meine Gemeine herum so gefährlichen und tödtlichen Pokken-Epidemie gesichert.“

Am 22. Juli 1800 sei das letzte Kind in Exter an den Blattern verschieden – lediglich von einer bemerkenswerten Ausnahme erzählte der Geistliche. So erlag Johann Conrad Graebe am 15. April 1807 den Pocken, obwohl der Junge vor drei Jahren eine Impfdosis erhalten hatte. Er litt zeit seines Lebens an den Fisteln, einer Hauterkrankung. Nun könnte man zunächst annehmen, ein solcher Fall würde Vorbehalte gegen die Vakzination schüren.

Doch in Exter trat genau das Gegenteil ein. Gerade der Tod des Kindes führte den Gemeindegliedern die Nützlichkeit einer Impfung vor Augen. Pemeier teilte mit, wie dieser erstaunlich anmutende Umstand zu erklären sei: „Dieses Kind wurde […] zu drei verschiedenen malen geimpft, aber nicht ein einziges mal schlugen die Schutz-Pokken an. Ganz bestimmt und wiederholentlich sagte damals der Herr Mediz[inal]-Rath Borges in Gegenwart sehr vieler Gemeinds-Glieder bey der zum 3t[en] mal vorzunehmenden Impfung: ‚Diesem Kinde wird nicht zu helfen seyn, bekommt es jetzt die Schutz-Pokken nicht, so kann es die natürl[ichen] Pokken in Zukunft erhalten und wahrscheinlich daran sterben. Einige tausend Kinder hab‘ ich geimpft, aber nie eine solche Haut vorgefunden, als bey diesem Kinde.‘ – Durch diesen Umstand, den hier ein jeder vorher wußte, und der nun auch überall erzählt wird, gewinnt die gute Sache immer mehr Beifall.“ Der Geistliche führte des Weiteren aus, dass sich zu Jahresbeginn 1807 bösartige Fistelgeschwüre bei Johann Conrad Graebe gebildet hätten. Seine Eltern schworen auf „abergläubische Mittel“ zur Heilung, wie Pfarrer Pemeier mit ironischem Unterton schilderte: „Sie schickten das Kind zu einer hieselbst am 10t[en] Febr[uar] [des laufenden Jahres] gestorbenen Witwe Kardinals. Stillschweigend beym Hin- und Her-Gange zum Todten wird die Wunde des Kindes mit der todten Hand bestrichen und – nicht geheilt. Es muß dabey was versehen seyn! Zum andern mal geschieht dies Pröbchen bey einer am 25t[en] März [des laufenden Jahres] verstorbenen Ehe-Gattin des Heurling Scheppe. Die Wunde wird nicht beßer. Zum 3t[en] mal wird’s gewiß helfen; der Stiefvater trägt das Kind nach dem am bösartigen Pokken verstorbenen Kinde des Coloni Kruse in Hollwiesen. Nun hilft’s: das Kind stirbt – nicht an Fistel-Geschwüren, sondern – an dem empfangenen Pokken-Gifte. Ein Opfer des tiefeingewurzelten Aberglaubens, der durch alle Belehrungen und Warnungen nicht auszurotten ist.“

„Zuruf an die Menschen: Die Blattern, durch die Einimpfung der Kuhpocken, auszurotten“ vom Bückeburger Arzt Faust, 1804 (LAV NRW W, D 607, Nr. 389, fol. 135v–136r).

Es klingt paradox und zynisch, aber gerade das Versterben des Knaben, dessen Ursache der Mediziner Borges schon im Vorfeld zu erklären wusste, scheint ungemein Vertrauen in die ärztliche Expertise geschaffen zu haben. Nun erkannte die Bevölkerung des Kirchspiels Exter einerseits ganz unmittelbar, was es bedeutete, wenn die Schutzblattern nicht anschlugen. Und die Menschen sahen andererseits, dass abergläubische Heilmethoden nicht anschlugen und die erhoffte Wirkung gänzlich ausblieb – mehr noch: den Jungen ins Verderben brachten.

Dieser Fall aus Exter belegt sehr anschaulich, wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegen die Pocken gekämpft wurde. Dabei hielt sich der preußische Staat zunächst eher zurück. Die Kriegs- und Domänenräte beobachteten die lokalen Initiativen, ließen Statistiken erheben und auswerten – statt zur Spritze griffen die Beamten zur Feder. Erst als viel Tinte geflossen war, sprang auch der König auf den schon rasant rollenden Impfexpress auf, den die Pfarrer lenkten. Gleichzeitig waren volksmedizinische Praktiken noch weit verbreitet, wie das Beispiel ebenfalls eindrucksvoll zeigt.

Quelle: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 389: Impfung gegen Kuhpocken, 1801–1808.

Literatur: Sebastian Schröder, Impfkampagne anno 1800. Der Kampf gegen die Blattern im Herforder Land, in: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford 30 (2023), S. 9–29.

Die bisherigen Teile der Serie zur Kriegs- und Domänenkammer Minden:

Ein Dickicht voller Alltagskultur: Die preußischen Kriegs- und Domänenkammern in Westfalen im 18. Jahrhundert

Die Preußen wollen umsatteln: Zugochsen statt Pferde lautete die Devise

Erfindergeist in Minden und Ravensberg

Die Preußische Kriegs- und Domänenkammer und der Kampf gegen Viehseuchen

Bergbau in Bierde? Die Mindener Kriegs- und Domänenkammer und die Steinkohle

Die Glocken schweigen. Oder: „Gewitterableiter“ in preußischen Kammerakten

„Diebereyen“, „Zügellosigkeiten“ und „schwache Nerven“: Kriegs- und Domänenräte auf Reisen